Freitag, 24. Juni 2011

"Die aktuelle Sündenwoche" - 2. Tag: Dienstagsgenuss

Thank God it's Friday - dieses Lied von R. Kelly gesungen (zumindest erinnere ich mich nur an diese Version, vielleicht ist es auch nur ein Cover und es gab schon mehrere Versionen) geistert mir doch immer mal wieder an einem Freitag durch den Kopf. Endlich Wochenende... allerdings für mich nur fast! Denn erst steht der neue Eintrag zur Woche in den Startlöchern. Nur, wenn ich den erfolgreich hinter mich bringe, kann ich mich zurücklehnen und sowas wie Wochenende haben.

Laut Wochenserie sind wir noch sehr weit vom Freitag entfernt - wir befinden uns beim zweiten Teil. Und da man in Deutschland die Woche gerne mit dem ungeliebten Montag anfängt, befinden wir uns gerade bei Dienstag. Wie der regelmäßige Leser weiß, geht es um die Todsünden der Modernen Welt, verfasst von Mahatma Ghandi. Nun habe ich einige Schriften von Ghandi gelesen und trotz der Tatsache, dass ich kein Hinduist bin, liegt in den Worten Ghandis doch viel Wahres. Vielleicht habe ich mir deswegen diese Todsünden als Wochenthema ausgesucht und nicht die sieben neuen Todsünden, die Papst Benedict XVI. vor ein paar Jahren ausgerufen hat.
Zur Todsünde des Sommerlochdienstags steht auf der Ghandi-Agenda: "Genuss ohne Gewissen". Klingt einleuchtend, werden an dieser Stelle viele denken und sofort ans Essen denken. Dazu ist zu sagen: so falsch liegt ihr gar nicht, liebe Leser! Doch mal zurück auf Anfang.

Erinnern wir uns an die Zeit, in der es nicht für jeden Menschen in Deutschland genug zu essen gab. An diesem Punkt scheitern die Meisten von uns bereits, denn wir haben nicht zur Zeit des zweiten Weltkriegs oder der Weltwirtschaftskrise um 1929 gelebt. Die Überlieferungen dieser Zeit wecken in uns jedoch immer wieder Alarmbereitschaft, durch die wir in ständiger Angst leben, einen Zustand wieder zu erleben, den die meisten Menschen in diesem Land zum ersten Mal in ihrem Leben erleben würde. Das Land wurde in seiner Geschichte schon oft durch Hungersnöte und Wirtschaftskrisen geprügelt - jeder Einzelne von uns wahrscheinlich nicht. Es sei denn er hat die 60 bei weitem überschritten oder war in seinem Leben von bitterer Armut geprägt.

Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, das ist weder ein Geheimnis noch macht das irgendwen in diesem Land traurig. Durch einen straff durchorganisierten Staat sollten alle Menschen genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und saubere, intakte Kleidung besitzen. Hinzu besitzt der deutsche Bürger das Informationsrecht, also ist es heute schon Standard, dass jeder entweder einen Fernseher, zumindest aber ein Radio besitzt. Bevor nun Unkenrufe kommen á la "Es gibt verdammt viel Kinderarmut hier in Deutschland!" "Viel zuviele Menschen haben das alles nicht!", sage ich nur: es besteht vom Staat her die Absicht, dass jeder Bürger dieses Landes das besitzt - ob das nun im Ende wirklich der Fall ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Die Kinderarmut (oder allgemein die Armut) greift auch in einem Staat um sich, in dem jeder eigentlich genug zu essen hätte, um damit drei Menschen zu füttern. Die Kapazitäten unserer Lebensmittelvorräte sind schier unglaublich. Manchmal, wenn ich durch einen Supermarkt gehe und ein bestimmtes Produkt sehe, versuche ich mir vorzustellen, wieviele Produkte in diesem gleichen Moment in sämtlichen Supermärkten des Landes zur Verfügung stehen. Aber gelingen mag mir das nicht wirklich; dafür sind die Dimensionen der Massenproduktion einfach zu groß.

Sicher kann man sich nicht über alles so detailliert Gedanken machen, wie ich es gerade in dem Beispiel "Lebensmittelvorrat" angedeutet habe. Denn über die Vielfalt und Masse, in der uns Güter zur Verfügung stehen, würden wir irgendwann wahnsinnig werden. Vor allem, wenn man die Tatsache bedenkt, wieviele dieser Produkte tagtäglich in die Tonne gekloppt werden. Es heißt, dass jeder Deutsche Lebensmittel für 330 Euro pro Jahr wegwirft - insgesamt sind das 20 Millionen Tonnen meist noch genießbares, gutes Essen. Im Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wären solche Zustände unvorstellbar gewesen, aber die Bundesrepublik Deutschland hat es in dieser Relation wahrlich weit gebracht.

Ich hatte die letzten Wochen erwähnt, ich würde es meiden, über EHEC zu sprechen. Da jetzt das Thema weitestgehend aus den Nachrichten und damit aus den Köpfen der Massen raus ist, wird es Zeit, doch mal darüber zu reden (vor allem, da wir jetzt weniger panisch wie Schafe denken, was die Ansteckung angeht!).
Es wurde ja viel darüber diskutiert, wie falsch die Regierung an die Sache mit dem EHEC Virus herangegangen ist, wieviel Zeit vergeudet wurde, den Erregerherd ausfindig zu machen oder die medizinische Versorgung zu optimieren. Alles, was mir in dem Moment wirklich sauer aufgestoßen war in diesser Zeit, war der Umgang mit den Lebensmitteln. Zunächst waren ja die spanischen Gurken (neben allen Gurken überhaupt und Tomaten und Blattsalaten) an der Misere Schuld. Und wie hat der doch immer so besonnene deutsche Bürger reagiert? Nach der Warnungsmeldung von Verbraucherministerin Aigner persönlich haben alle brav auf den Verzehr von Gurken, Tomaten und Salaten verzichtet. Was dann passierte? Das Bildmaterial in den Nachrichten türmte sich, Gurken wurden massenweise in den Müll geworfen, Salate wurden direkt auf dem Feld durch den Schredder zerstört. Es kam in diesen Wochen ganz deutlich zum Vorschein, was keiner eigentlich wahrhaben will im Ernährungsstumpfsinn: wir Deutschen haben wahrlich viel zu viel zu essen!

Der Witz an der Sache war im Nachhinein nur, dass keiner der drei Hauptbeschuldigten Schuld an der Verbreitung von EHEC war... stattdessen waren es Sprossen, die auch nur durch eine Mitarbeiterin, die das Virus in sich trug, kontaminiert sind. Fall erledigt, Akte geschlossen, Deutschland kann wieder aufatmen. Nun, anders gesehen heißt das aber: es sind immer noch Millionen Gurken, Tomaten und Salatköpfe einen "sinnlosen Tod" gestorben (wenn man's mal ganz lyrisch sehen will), mit denen locker ganze Städte hätten gesättigt werden können.

Aber, wie gesagt, Deutschland hat einfach zuviel zum Essen. Woran das liegt? Liegt es wirklich an der Angst, dass wir, hätten wir weniger Vorräte, verhungern könnten? Bereitet uns ein Tod, dessen Qualen wir nicht einmal im Ansatz kennen, solche seelischen Schmerzen? Das kommt ja fast der Angst der Menschen im Mittelalter vor der Hölle nahe. Als Ablaßbriefe für Verwandte und sich selbst gekauft wurde, damit man nicht unter den Qualen des ewigen Höllenfeuers leiden sollte. Wenn man dieses Beispiel wirklich mit der heutigen Angst vorm Hungertod vergleicht, wäre es doch eigentlich schön, wenn man sich mit Ablaßbriefen vor dem Hungertod retten könnte. Wenigstens bräucht es dann nicht die übermäßige Flut an Lebensmitteln.

Damit sind wir natürlich noch nicht aus der Sache mit dem "Genuss ohne Gewissen" raus. Immerhin geht es uns Wohlstandsbürgern längst nicht mehr darum, einfach satt zu werden... das würde nämlich nur zur Hälfte erklären, warum es solch eine Vielfalt an Lebensmitteln gibt.

Essen ist längst nicht mehr nur dazu da, um satt zu werden. Allein die Menge und Vielfalt, die jeder von uns jeden Tag zu sich nimmt (Magermodels mal ausgenommen!) beweisen das. Wir brauchen das Essen und das nur sekundär zum Selbsterhalt. Primär wollen wir Essen genießen, mit mindestens drei Sinnen: Geruch, Geschmack und Optik. Der Trend nimmt dabei immer wahnwitzigere Formen an.

An unser Essen stellen wir inzwischen die höchsten Ansprüche: wir wollen nicht immer das Gleiche zur gleichen Uhrzeit essen (mal einfallslose TK-Pizza & Döner-Junkies ausgenommen!), wir wollen auf Entdeckungsreise gehen. Kulinarische Weltreisen in unserer kleinen bescheidenen Kochecke - oder den verschiedendsten Restaurant von den Maestros der Kochkunst zubereitet. Es ist nicht nur wichtig, das Essen zu kennen, dass in unseren Nachbarländern gegessen wird, wir wollen mehr. Höher, schneller, weiter gilt eben auch für die Themenwelt "Essen & Trinken". Immer außergewöhnlicher, teurer, exquisiter müssen die Geschmäcker sich in unserem Gaumen hin- und herwälzen. Wir preschen mit unserem Essen in ferne Länder vor, die wir in unserem Leben wahrscheinlich nie bereisen werden: Indien, Thailand, Australien, Neuseeland, Südafrika... es gibt inzwischen keine Küche, auf die nicht bereits in irgendeiner Weise der Fokus gelegt wurde. Auch in punkto "industriell hergestelltem Essen".

Grillsaucen mit indischem oder chinesischem Allroundflavour sind da nur der Anfang. Und es verkauft sich doch verdammt gut... billiger und stressfreier als ein authentischer Trip in die Länder ist es allemal, eine Grillsauce "Sweet China" für 80 Cent im Supermarkt zu kaufen. Die Wahrheit über chinesisches Essen wollen dann nur die wahren "Kulinariker mit Abenteuer im Blut", die alles ausprobieren, egal wie schmerzhaft oder geschmacklos es ist.

Auch die ständige Suche nach immer mehr Gechmacksformen und die ewige Verschwendung von Lebensmittelbeständen nur zur eigenen Befriedigung durch den Gaumen kann ruhigen Gewissens als "Größenwahn" bezeichnet werden. Nichts gegen gutes Essen! Auch ich liebe gute Küchen und das aus aller Welt. Und im Punkt "alles ausprobieren, kochen und essen wollen" kann ich mich auch ruhigen Gewissens schuldig bekennen. Der Schlüssel liegt wohl im Maß, nicht in der Masse. Wie mit allem im Leben.

Deutschland ist Spitzenreiter, wenn es um Dickleibigkeit geht. Dabei sind drei Viertel aller erwachsenen Männer und über die Hälfte der Frauen übergewichtig. Lachten wir vor einigen Jahren über die Übergewichtsrate der US-Bürger, ist inzwischen klar, dass wir uns (dank des Vorbilds amerikanischer Ernährung) dicht auf den Fersen der Amerikaner befinden. Ein immer bequemeres Leben gepaart mit immer weitreichenderen, fett- und zuckerreichen Ernährung hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Gegentrends gibt es natürlich auch, in übertriebener Pseudoaskese und so viel Sport, dass sich die Gelenke auf das hohe Alter des Sportlers nicht freuen dürften.

Das Gegenteil zum "Genuss ohne Gewissen" lag für Ghandi wohl in der Askese, in der der Fastende spirituelle Erleuchtung erhoffte durch den Verzicht auf Essen. Vergleichbar mit Magermodels ist das natürlich nicht, die essen nur nichts, um eine gute Figur zu erhalten. Fastende fasten nicht, um Gewicht zu verlieren, sondern (um es platt auszudrücken!) um zu Verstand zu kommen. Dass Essen unseren Verstand blenden kann, dürfte wohl jedem klar sein, wenn er darüber nachdenkt, wie wir uns durch das Essen manipulieren lassen. Ein Essen, dass verführerisch aussieht, ist bereits in unserem Mund, ehe wir darüber nachdenken können, woher die Zutaten für das Essen kommen, ob das Essen hygienisch einwandfrei ist etc.

Wen interessiert da schon "Gammelfleisch", wenn das Steak auf dem Teller so verdammt gut aussieht? Wirklich sehen kann man Gammelfleisch nicht, man kann es schmecken (und dann bereuen, dass man je eine gute Meinung davon hatte), aber das Auge spielt uns mehr als einen Streich, wenn es um den Gusto geht.

Ein interessanter Trend in dieser Richtung ist übrigens der "Food Porn". Ja, ganz recht... es handelt sich um "Essen im Pornoformat", wobei allerdings nicht die sexuelle Libido angesprochen werden soll. Es geht um Essen, dass so verführerisch für das menschliche Auge fotografiert wird, dass man schon beim Anblick einen Orgasmus bekommt. Also quasi "Playboy kulinarisch": das Essen löst Lustgefühle aus, ohne dass man es riechen oder schmecken kann.

Doch "Genuss ohne Gewissen" beschränkt sich ja nicht nur auf das, was wir oral aufnehmen und unseren Verdauungstrakt durchwandert. Genuss gibt es in vielen verschiedenen Formen. Und wo wir schon beim Thema "Porno" sind, auch dort gibt es den Genuss. Sexueller Genuss wird inzwischen derart hoch angepriesen, dass die Menschen vergessen, wozu Sex an sich überhaupt da ist. Und auch hier gibt es den "Genuss ohne Gewissen".

Wenn wir zurückblicken auf die Zeiten von Hungersnöten und Wirtschaftskrisen (um 1929), waren die Menschen dieser Zeit auch sexuell gesehen ganz andere wie die, die wir heute neben und vor uns haben. Ein Sexualpartner für's Leben.. so könnte man die Devise der damaligen Zeit zusammenfassen. Nicht flächendeckend, aber der Gedanke an Sex mit vielen wechselnden Partnern stellte sich doch wesentlich seltener als heute. Wir sind heute dank Kondomen und Pille wesentlich privilegierter als damals, wo man mit einem Mal Sex gleich den Artenerhalt sichern konnte.

Doch wie mit allem im Leben geht es um die Extreme. Und wo früher kaum Sex praktiziert wurde aus Angst vor erneutem Nachwuchs, wird dank dem Schlupfloch "Pille" (oder Kondom, je nachdem) der Sex bis zur Schmerzgrenze ausgereizt. Nicht, dass ich zum Moralprediger in dieser Sache mutieren möchte, das läge mir absolut fern. Doch auch sexueller Übergenuss, ohne ein Gewissen zu haben, kann schädlich sein - für sich selbst und für andere.

Spätestens, wenn Verhütung missachtet wird oder wenn der Sexualtrieb immer abenteuerlichere Ausmaße annimmt. Die Pornoindustrie mutiert inzwischen in ihren Videos schon zu olympischen Gymnastikübungen, wo man sich anfangen könnte zu fragen: was bringt's? Sexuelle Erfüllung? Oder eher ein paar gebrochene Rippen? Und die Zweisamkeit, nach der sich der Mensch so potenziell sehnt, bleibt bei all dem eh auf der Strecke. Wenn immer mehr Pornos gezeigt werden, in der Frauen mit immer mehr Männern gleichzeitig ungeschützten Verkehr haben, kann man sich zwangsläufig nur noch mit den Worten der "Black Eyed Peas" fragen: "Where is the love?"

Vielleicht geht es in den Todsünden alles in allem wirklich nur darum, die Liebe als höchstes Gut zu bewahren. Im weitesten Sinne (bei diesem Thema) die Liebe zum Essen, die Liebe zum guten, weil nicht wahllosen Sex und die Liebe zueinander. Ohne sich gegenseitig die Butter vom Brot nehmen zu wollen. Schließlich haben wir doch so viel Butter, so viele Kühe, die Milch für die Butter geben - und so viele Supermärkte, wo man kiloweise Butter kaufen kann.

Zweifel mögen sich an der Überflussgesellschaft nur breitmachen, wenn Menschen kurz vor Feiertagen in Panik durch den Supermarkt strömen und mit Ellenbogen und Beinchen stellen sich die besten Lebensmittel sichern wollen. Das alles in einer Welt, in der auf der anderen Seite der Erde in Haiti Menschen qualvoll verhungern ... so ganz ohne Butter, ohne Milch und ohne Kühe.

Schöne Welt ohne Probleme, grausame Welt ohne Gewissen - in diesem Sinne, ein schönes (kulinarisch wie sexuell erfülltes) Wochenende! Bis zum nächsten Freitag (bzw. Sommerlochmittwoch! ;-))

LG Gene :-)

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