Samstag, 21. April 2012

"Back to normal": sind wir noch verrückt?

In dieser Woche begann in meiner Heimatstadt Trier das allgemeine Wandern der Wallfahrer zum "Heiligen Rock", der im Trierer Dom ausgestellt wird. Damit beginnt dann der vierwöchige Wahnsinn mit plärrenden Wallfahrtsschulklassen und jeder Menge Menschen, die einfach mal gemütlich in der Gegend herumstehen. Schön für die Wallfahrer, recht nervig für all jene, die in der Stadt leben und möglichst schnell von A nach B kommen wollen. Aber so ist das nunmal bei Großveranstaltungen - mir tun damit jetzt schon die Einwohner von London leid, die im Sommer miterleben dürfen, was es heißt, mit mehr Schwierigkeiten als sonst zur Arbeit zu kommen. Die Olympischen Sommerspiele stehen in der Stadt an und damit haben die Londoner einiges, auf das sie sich "freuen" dürfen: viel zu viele Touristen, ein riesiger Schuldenberg, den die Stadt wohl erst in 20 Jahren einigermaßen abbezahlt haben wird, Terrorgefahren noch und nöcher... ja, es ist schon schön, wenn man Teil eines großen Ganzen ist (egal, wie sehr man es wirklich braucht!). Nein, ich spreche mich nicht gegen die Olympischen Spiele aus, der Hype darum nimmt nur Dimensionen an, die geradezu lächerlich sind.

Aber (damit zum Stichwort): Lächerlichkeiten gibt es wohl schon so viele auf dieser Welt, dass das Durchschnittliche gar nicht mehr auffällt. Durchschnittlich war gestern (oder eher vorvorgestern), heute ist es mehr denn je angesagt, aus der Reihe zu tanzen. Dumm nur, wenn dadurch so viel aus der Reihe tanzt, dass es gar keine Reihe mehr gibt. Chaos ist das Endergebnis und die Menschen wissen gar nicht mehr, wo die Leitlinie eigentlich ursprünglich mal war.

Am Montag begann nun der Prozess gegen Anders Behring Breivik, der Mann, der im letzten Jahr bei einem unfassbaren Amoklauf insgesamt 77 Menschen tötete - und unzählige Menschen (auch wenn sie nicht dabei waren) traumatisierte. Nicht nur die Überlebenden leiden unter den Wunden dieses Tages, auch viele Unbeteiligte in Norwegen und auch in anderen Ländern fragen sich seitdem, welche Motive hinter dieser Tat stecken könnten. Natürlich ist klar, warum Breivik meinte, das zu tun, was er tat. Aber befriedigt diese Begründung? Kampf der Multikultur und speziell dem Islam? Macht das wirklich greifbar, warum ein Mensch so viele unschuldige Menschen tötet? Wenn man  über dieses Geschehen und den Prozess diskutiert (und ich hatte das "Vergnügen" in dieser Woche), stellt sich inzwischen vordergründig die Frage, wie der Täter nun bestraft wird. Wieviele Jahre Haft sind gut genug für ihn? Und: ist er zurechnungsfähig oder nicht? Geisteskrank oder gesund - das ist wohl hier die Frage. Zumindest ist das die einzige Frage, die vordergründiig die Presse interessiert - während das Thema in Norwegen vorwiegend ausgeklammert wird (um Breivik nicht die Show zu geben, nach der sich der Narzist so sehr sehnt), wird das Thema in den meisten deutschen Presseplattformen lang- und breitgetreten. Egal, welche Konsequenzen das Ganze hat, Hauptsache ist doch nur, dass die Presse eine Schlagzeile hat.

Den ruhmesreichen Ehrenplatz unter den Widerlichkeiten der deutschen Presse nimmt wohl wieder einmal die Tageszeitung mit den vier Buchstaben ein. Breivik im Großformat, reißerischer Titel - frei nach dem Motto:Schlagzeile gefunden - Sensationsgier befriedigt - Mission geglückt!" Überrascht kann man darüber nicht sein, die BILD ist für dieses Verhalten bekannt, gleichermaßen geliebt und geächtet und sie wird sich wohl auch nicht mehr zum Positiven verbessern. Das ist die traurige Realität der Zukunft: es wird nicht mehr bescheidener oder normaler - alles, was heute noch als außergewöhnlich oder verrückt gilt, ist morgen schon "normal". Der Stempel "normal" bezeichnet im Ende nur Dinge, die alltäglich sind und so oft vorkommen, dass sie nicht mehr auffallen. 

Das Mobiltelefon? In den 80ern noch außergewöhnlich, teilweise als "bekloppt" abgestempelt (und man konnte es den Skeptikern damals nicht verübeln... Menschen, die mitten auf der Straße quasi mit sich selbst reden und einen Backstein am Ohr tragen, sind nicht gerade für Voll zu nehmen!). Heute jedoch ist das Mobiltelefon nicht mehr aus dem Leben der Menschen wegzudenken. Es fragt sich allerdings wieso! Ich sehe immer noch ein, dass ein Mobiltelefon Leben retten kann und sehr praktisch im Alltag ist. Andererseits führt es auch dazu, sozial immer mehr dazugehören zu wollen und sich so krampfhaft durch den Alltag zu bewegen, dass allein das in Zukunft zu immer mehr Menschen mit steifem Nacken führen kann. Der Druck, von Menschen gemocht und sozial akzeptiert zu werden zieht immer weitere Kreise und das Mobiltelefon ist eins der entscheidenden Instrumente in diesem Prozess. Nicht das einzige, aber es ist schon zum Alltagsbild geworden, dass Menschen sich nur noch wertig fühlen, wenn sie ständig und pausenlos durch SMS-Nachrichten und Anrufen "belästigt" werden. Eine Belästigung ist es nicht im eigentlichen Sinne, die Menschen freuen sich doch viel zu sehr, dass sie sozial und gesellschaftlich allein durch die ständige Kontaktaufnahme durch andere "angesehen" sind. Egal, ob sie die Menschen leiden können oder nicht, der entscheidende Punkt ist, dass man "in Kontakt" bleibt. 

Das Telefon ist allerdings längst nicht mehr das einzige Instrument, dass zum Alltagsprodukt geworden ist im Dickicht der sozialen Kompetenzen. Seit es soziale Netzwerke gibt, ist es nur noch entscheidend, wieviele Menschen man kennt, wie gut man sie kennt, wie man sie kennt, warum man sie kennt, wie lange man sie kennt und warum zum Teufel man nicht eigentlich noch viel mehr Menschen kennt. "Ich kenne dich", "Du kennst ihn", "sie kennt uns".... es gibt nichts mehr anderes, wenn man sich umguckt. Dabei kennt man dann nicht mehr nur Bekannte, Freunde und Verwandte - man kennt Marken, Prominente, Butterbrotstullen und besonders schön gewachsene Grashalme auf besonders fruchtbaren Wiesen. Gut, das Letzte war wohl jetzt noch im Bereich "verrückt", aber glaubt mir, bis in spätestens zwei Jahren wird auch das "normal" sein. 

Was ist nun verrückt und was normal? Die Menschen sind sich wohl weitestgehend einig (solange sie nicht selbst vom Virus Größenwahn befallen sind), dass Anders Behring Breivik nicht mehr alle Tassen in seinem Schrank hat. Das Problem ist: er ist nicht mehr der Einzige, der Außergewöhnliche, der über solche Taten nicht nur nachdenkt, sondern sie auch in die Tat. Er ist nicht der Einzige, der das Potenzial hat und in diesen Dimensionen denkt. Inzwischen gibt es so viel Gewaltpotenzial, so viele Gedanken zu Zerstörung, Mord, Terror und dem Willen, grenzenloses Leid über den Nächsten zu bringen, dass einem zum Fürchten sein kann. Wahrscheinlich ist genau das die "Faszination" oder zumindest das Interesse, mit dem die Menschen speziell im Ausland dem Prozess in Oslo begegnen. Die Menschen haben tief in ihrem Inneren Angst, dass dieses Gewaltpotenzial irgendwann einmal "normal" werden könnte. Auf dem besten Weg dahin sind wir ja bereits. 

Den Begriff "Terror" gab es vor 15 Jahren nicht. Das heißt nicht, dass es das Wort "Terror" nicht gab, aber der Begriff war im täglichen Sprachgebrauch einfach nicht vorhanden. Der 11. September 2001 hat das alles geändert, auch wenn es bereits vorher schon einige verheerende Anschläge gab, bei denen viele Menschen gestorben sind. Die Dimensionen veränderten sich nur durch die Anschläge auf das WTC in New York City. Immer mehr Terroranschläge machten Terrorakte zu einer Art skurriler Normalität, die immer mehr mit Schulterzucken honoriert wird, sobald man im Fernsehen darüber eine Nachricht hört. Dies galt zwar nicht für die Anschläge in Oslo und auf Utoya, jedoch immer mehr für Anschläge in Krisengebieten wie Afghanistan oder Pakistan. Je mehr Anschläge geschehen, desto "normaler" wird solch eine Entwicklung für den Außenstehenden. Nur für die Betroffenen, die bei solch einem Anschlag schwer verletzt oder getötet werden und die Angehörigen der Betroffenen ist jeder einzelne Terrorakt entscheidend und ein wahrhaft einschneidendes Erlebnis. Für diese Menschen gibt es keine "Normalität" im Terror. Die "Normalität" ist in diesem Fall nur die Perversität der Medien, die solche Akte immer öfter als Randnotiz abzeichnen als reiner Lückenfüller, damit die Nachrichten auch die gewünschte Länge erreichen. 

Vielleicht sehe ich das Ganze zu negativ, trotzdem finde ich es traurig, wie emotionslos viele auf den Schrecken in dieser Welt reagieren. Wahrscheinlich können wir nicht anders, sonst wären wir nicht mehr normal. Es würde uns schlichtweg in den Wahnsinn treiben, wenn wir versuchten, jedes Leid mitzufühlen, das einem anderen Menschen passiert. Der umgekehrte Weg ist da wohl der sicherste für die eigene geistige Gesundheit. 

Das Leben muss weitergehen, die Frage ist allerdings, wo wir in 20 Jahren stehen. Was wird in 20 Jahren als "normal" gelten, was heute noch als absolut verrückt gilt? Krieg? Der ist schon normal, zumindest als Aufhänger in Zeitungen und Fernsehnachrichten. Technische Exklusivitäten? Mit bestimmter Sicherheit, die Frage stellt sich dort allerdings auch wieder einmal, ob man das Ganze wirklich braucht oder ob es im Ende nur hilft, immer unfähiger zu werden, sich selbstständig durch das Leben zu schlagen. Was nämlich keiner so richtig zu begreifen scheint: die Technik macht die Menschen dümmer und fauler in gleichem Maße. Es interessiert die Menschen plötzlich nicht mehr, wieviel sie sich merken können oder was sie wirklich wissen - man kann schließlich alles googlen. Telefonnummern und Geburtstage muss man sich dank "Telefonbuch im Mobiltelefon" oder "Kalender" eh nicht mehr merken. Nutzen wir die Zeit einfach für wichtigere Dinge. Doch was ist wichtig? 

Sind schlussendlich die normalen Dinge die wirklich wichtigen? Oder das Verrückte? Vielleicht muss erst differenziert werden, was "normal" ist, weil es überlebensnotwendig ist oder was auch als "normal" bezeichnet wird, sich allerdings nur deswegen so bezeichnen darf, weil es so durchschnittlich und alltäglich ist, dass es kein Erstaunen mehr auslöst. Wahrscheinlich sind die Dinge der ersten Kategorie die wirklich wichtigen. Alles, was wir für die eigene Existenz brauchen, um zu überleben, sind die Dinge, die wir erhalten müssen. Der Rest ist zwar alltäglich und manchen kommt es vor, als könnte sie ohne nicht leben. Fakt ist jedoch, alles ist austauschbar. Jeder beliebte Schauspieler von heute wird durch fünf andere in ein paar Jahren ersetzt, jede hypermoderne Technik wird durch mindestens 20 neue Marken in einigen Monaten abgelöst.

Es kann sein, dass wir uns alle der Realität stellen müssen, dass wir Stück für Stück verrückter werden. Gelangweilt und überfüttert von allen Möglichkeiten, die uns die globalisierte Welt bietet, entwickeln wir Tendenzen, die Extreme immer weiter auszureißen. Ich glaube nicht, dass das dazu führen wird, dass wir alle in Zukunft Amok laufen. Zu diesem Thema gehört wohl auch eine gehörige Portion Wahnsinn und Realitätsverlust, gepaart mit abgrundtief bösen Charaktereigenschaften, von denen man sich aussuchen kann, ob sie nun angeboren oder erlernt sind. Doch wir werden in Zukunft immer weniger überrascht werden von den Extremen, die das Leben hervorbringt. Bei all den Individuen und allen Ideen, die dadurch entstehen, ist es nicht mehr verwunderlich, was alles geschieht, welche Wege jeder einzelne geht. Damit wird es auch immer schwerer, uns zu unterhalten, uns zu überraschen, zu schockieren - aber auch zu begeistern. 

Abwarten und Tee trinken heißt da wohl wieder einmal die Devise. Denn weder im Kaffeesatz noch in der Kristallkugel können wir heute erkennen, was morgen "normal" sein wird. Eins steht nur fest: irgendwann ist alles vorbei, auch die verrücktesten Dinge. Das gilt sowohl für den Prozess in Oslo, als auch für die "Heilig Rock"-Wallfahrt - und für den kleinen Alltagswahnsinn sowieso. 

In diesem Sinne allen Lesern dieses Blogs ein schönes Restwochenende und eine gute nächste Woche. Bis zum nächsten Eintrag am nächsten Samstag. 

LG Gene :-)


Samstag, 14. April 2012

Phänomen Fernsehen, oder: Überhaupt und sowieso... nix Neues aufm Damenklo!

Heute Abend ist für mich wohl wieder mal ein schwarzes Loch aufgebrochen. Die Untiefen des Unmöglichen haben sich wieder einmal breitgemacht und nun haben wir den Salat. Wovon ich spreche? Nun, sonst möchte ich in meinem Wocheneintrag auf politische Missstände oder die allgemeine Dummheit der Menschheit aufmerksam machen. Eigentlich ist es in diesem Blog nicht anders, auch wenn das Thema an sich im ersten Moment trivial wirken mag.

In dieser Woche durfte ich mich mal wieder kräftig aufregen, als ich las, dass eine meiner derzeitigen Lieblingsserien mir nichts, dir nichts aus dem Programm genommen wurde, quasi über Nacht, ausgetauscht gegen die x-te Wiederholung einer anderen Serie, die ich schon als Kleinkind anfang der 90er verstanden habe und nicht unbedingt wiedersehen musste. Ja, ich weiß, es gibt schlimmere Dinge auf diesem Planeten (die derzeitige vermeintliche Waffenruhe in Syrien; das Erdbeben diese Woche vor der Insel Sumatra, das schreckliche Erinnerungen an den Tsunami am Boxing Day 2004 wieder wachrief; dann noch das allgemeine Meckern über die Benzinpreise etc.). Eigentlich ist doch alles schlecht, wenn man sich umguckt. Früher gab es aber wenigstens noch den einen Fels in der Brandung (Achtung, Werbespruch!), auf den man sich verlassen konnte: das Fernsehen... oder, da man es heutzutage unterscheiden muss, als "Free-TV" bezeichnet. Das "Free-TV" gilt in der heutigen Zeit als so gut wie kostenlose (wenn man die GEZ-Gebühren nicht einrechnet!) Quelle der Unterhaltung und Information. Ich persönlich nutze das "Angebot" des Free-TV's (wie viele andere Menschen!) täglich. Ja, ich gebe zu, ich bin eine Art TV-Junkie. Doch bei mir hat der Wert der Unterhaltung Grenzen - und die sind inzwischen bei Weitem überschritten. Denn das Free-TV ist eher zur "Free-Folter" (oder besser: "Free-Torture") geworden! Das Absetzen meiner heißgeliebten Serie ist dabei nur die Spitze des Eisberges.

Jeden Tag werden die Menschen mit einer Flut von Programmangeboten überhäuft. Lassen wir das Internet mal einen Moment mal außer Acht und denken uns in die Zeit vor über 20 Jahren, als es noch gar kein Internet gab. Zu dieser Zeit (Ende der 80er, Anfang der 90er) galt das Fernsehen als DIE Unterhaltungsquelle schlechthin. Nein, es war nicht wirklich besser zu dieser Zeit, aber anders. In diesem "Anders"-Zustand aber dann doch zugegebenermaßen von höherer Qualität. Wenngleich ich zugeben muss: virale TV-Seuchen, die bis zum Erbrechen durch das TV gedudelt wurden, gab es schon immer. Das Niveau wurde nur konstant immer weiter herabgesenkt. Ende der 80er waren es die sogenannten "Gameshows", die in solch einer Penetranz über den Äther geschickt wurden, dass man Brechreiz allein beim Wort "Gameshow" bekommen konnte. Von "Geh aufs Ganze" über "Familienduell" bis hin zu "Der Preis ist heiß". Keine Gameshow war blöd genug, kein Teilnehmer sich für irgendeine bekloppte Aktion zu schade. Aber wer damals dachte, das Ende der Welt sei erreicht, der hat nicht mit dem Einfallsreichtum der Programmmacher gerechnet.

Anfang der 90er dann fingen die Menschen an, sich zu Gruppen zusammenzufinden, wild zusammengewürfelt aus scheinbar allen Schichten und Lebensbereichen, um dann Tehmen zu diskutieren, die die Welt nicht braucht. Die Talkshow war geboren! Früher nur für die Privilegierten (sprich: Politiker und Prominente, die wirklich was zu sagen haben) gedacht, gab es dann auf einmal Talkshows, in denen Hintz und Kuntz über Verdauungs-, Sexual-, Beziehungs- oder Religionsprobleme reden konnten - oder einfach alles zusammen! Zu einem bestimmten Zeitpunkt gab es weit über ein Dutzend Talkshows täglich (!), totgenudelt von sämtlichen wohlgemerkt privaten Fernsehsendern. Man sollte wohl bei alledem erwähnen, dass die viralen TV-Seuchen Erfindungen der werbebesudelten Privatsender sind. Ob das wirklich heute noch wichtig ist, steht wieder auf einem anderen Blatt.

Als die Talkshows müdegelaufen waren und sich nicht mehr Menschen aus allen Schichten, sondern nur noch aus der asozialen Schicht in eine Talkshow setzten, war es wieder einmal Zeit für etwas Neues. Olli Geissen, Bärbel Schäfer und Hans Meiser hatten irgendwann über alles diskutiert, von vollgeschissenen Windeln über Schleimauswurf bei Grippe bis zum Geständnis "Ich bin verheiratet und gehe trotzdem regelmäßig in den Puff!", also musste es etwas Neues geben, was den Menschen untergejubelt werden konnte. Es begann damit unaufhörlich der Aufstieg zum "geschriebenen Drama"... und warum? Weil authentische Talkshows mit authentischen Meinungen von authentischen Asozialen einfach stinklangweilig waren und keine Quote mehr brachten! Also gab es ein neues Konzept: die Gerichtsshow! Bildung am Nachmittag für alle, die immer mal wissen wollten, wie man wen warum und überhaupt verklagen kann.

Alles begann mit Barbara Salesch, der "Sirene der deutschen Gerichtsshows". Anfangs war ihre Show sogar noch authentisch, immerhin kloppten sich dort in Zivilprozessen reale Menschen um Recht und Ordnung. Zu dieser Zeit wurde auch Regina Zindler mit ihrem "Maschendrahtzaun" zu ewigem Ruhm. Jedoch (wie auch bei den Talkshows) war die Langeweile beim Zuschauer vorprogrammiert, denn wen interessiert schon, wo der Zaun aufhört und der Knallerbsenstrauch anfängt. Wiederum brauchte es ein neues Konzept... tadaa, die Gerichtsshow nach Skript war geboren! Plötzlich wurden die ganz harten Geschütze aufgefahren: das Strafgericht mit Mord und Todschlag, das Familiengericht mit den zerrüttendsten Familien, das Jugendgericht mit Kindern, die man sich sonst nur in der Bronx vorstellen mochte. Es war herrlich! Alle Menschen waren Straftäter und abgrundtief böse. Wiedermal gab es ein Dutzend Sendungen zu dem Thema täglich, die über den Bildschirm flimmerten.

Zugegeben, ein paar dieser TV-Leichen haben bis heute überlebt - zumindest bei Sat.1. Aber zu denen komm ich gleich noch! Was kam danach noch? Nachdem sich vor ein paar Jahren die Gerichtsshows endgültig zum Tode verurteilt haben, brauchte es wieder ein Allheilmittel gegen die Langeweile am Werktagnachmittag. Genau zu diesem Zeitpunkt muss ein ganz diabolisch veranlagter Mensch die fieseste Idee auf diesem Planeten bekommen haben, denn es wurde der Damien des schlechten TV-Geschmacks geboren: die "Doku-Soap". Früher kannte ich sowas nur von MTV, nannte sich "The Real World", spielte irgendwo in einer amerikanischen In-Metropole und war schon damals stinklangweilig: eine Gruppe junger Menschen, die zusammenleben und sich um den besten Sitzplatz auf der Couch beim Fernsehen kloppten. Im Vergleich zu dem, was die Dokusoaps Deutschlands allerdings zu bieten begannen, war wohl "The Real World" wie "Das Literarische Quartett" für Junge.

Dokusoaps waren anfangs wohl dazu gedacht, das Leben deutscher Familien zu zeigen, weil das einen Fernsehzuschauer anscheinend brennend interessiert. Kitschige amerikanische TV-Serien waren gestern, heute wird das Ganze mit "echten Menschen" und "echten Emotionen" verkaufen - Bon Dieu! Wären sie doch besser bei den gefälschten Menschen und Emotionen geblieben, mit "Reich & Schön" konnte ich so viel mehr anfangen, das war wenigstens noch zum Lachen!

Das Problem der Dokusoaps ist wohl, dass sie nicht nur so langweilig sind, dass man a) den Fernseher zum Fenster rausschmeißen oder b) Selbstmord begehen möchte... sie sind einfach nur zum Weinen, weil die Intelligenz so wahnsinnig unterfordert wird.

Gut, eine amerikanische TV-Serie, sei sie aus dem Bereich "Soap" oder "Drama" oder "Comedy" ist jetzt auch nicht größter intellektueller Anspruch... das will sie aber auch gar nicht sein und muss sie auch gar nicht sein. Der Unterschied zu einer deutschen Dokusoap ist allerdings, dass preisgekrönte TV-Serien, die von Profis geschrieben wurden, einen Handlungsstrang haben, manchmal unterschwellig sogar eine "Moral von der Geschicht". DAS müssten die "Familien im Brennpunkt" oder "X-Diaries" erstmal bieten können. Können sie aber nicht! Werden sie auch nie können. Wenn ich eine "Serie" wie "Mitten im Leben" sehe, möchte ich aus meinem eigenen Leben mit Freuden ausscheiden, so weit ist es schon gekommen! Der TV-Glibber ist überall, es ist wie in dem Film "The Blob" mit Steve McQueen aus den 50er Jahren. Eine rosa Masse, die alles, was es berührt, verseucht und verschlingt.... und es hört nie auf. Es dreht sich alles weiter, wie eine Spirale, die immer enger zusammenläuft auf dem Fernsehbildschirm in schwarz-weiß. Das Kaninchen wird hypnotisiert vom Privatfernsehen.

...was dieser Appell gegen das TV mit meinem wöchentlichen Blogeintrag zu tun hat? Nun, im ersten Moment nix, es wirkt wie der wütende Appell einer jungen Frau, der ihre Samstagabendserie geklaut wurde (und, mal so nebenbei bemerkt, "Flashpoint" ist eine verdammt gute Serie, die ich jetzt gerade in diesem Moment sehr schmerzlich vermisse!). Nein, es geht mir um etwas ganz anderes bei meiner Reise durch die letzten 20 Jahre TV-Geschichte. Ich frage mich täglich, wenn ich den Fernseher einschalte und per Zapping vor Sendungen wie "Verdachtsfälle" oder "Zwei bei Kallwass" fliehe: "Wieso machen wir das eigentlich alles mit?"

Jetzt mal ernsthaft: das Fernsehen ist nichts ohne seine Zuschauer. Der Konsument hat die Wahl (wie immer im Leben!). Meckern über das Niveau des Fernsehprogramms ist quasi Meckern über den IQ der deutschen Bevölkerung. Also beschwere ich mich hier öffentlich über die Doofheit der Leute. Damit wäre mein Blogeintrag wohl dann doch wieder da angekommen, wo er jede Woche mal so, mal so ankommt: bei der Intelligenz der Weltbevölkerung. Einen Vorwurf kann ich nicht an das deutsche Privat-TV machen: dass es diesen ganzen TV-Schrott erfunden hätte. Nein, selbst die Kreativität muss man den deutschen TV-Sendern bei diesem ganzen Leid aberkennen. Ob das nun schmeichelhaft ist oder nicht, sei mal dahingestellt.

Die Wahrheit liegt (wie so oft) im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die United States of Analphabeten haben die schlimmsten TV-Seuchen der Geschichte erfunden... und in gebündeltem Maße gibt es die heute noch im amerikanischen TV zu bewundern: dort laufen zuerst die Gameshows, dann die Talkshows, zwischendurch die Gerichtsshows, damit man im Ende bei Castingshows und den "Real Housewives of New York City" zusehen darf (was dann quasi das amerikanische Pendant zu "Die Geissens" oder Daniela Katzenberger ist). Also: die Amis sind Schuld! Andererseits, die Amis sind auch ganz andere, richtig gute TV-Formate Schuld, die nur leider nicht im deutschen TV landen. Wie gesagt, TV-Serien, das können die Amis. Nicht alle sind grenzenlos genial, aber ein Großteil unterhält gut. Das Traurige: vielleicht 20 Prozent dieser guten Serien landen überhaupt im deutschen Free-TV. Der Rest wird entweder unterschlagen oder kommt nur ins deutsche TV, wenn man gewillt ist, dafür 25 Euro und mehr pro Monat zu bezahlen - Digital TV sei Dank!

Wohin also nun mit diesem ganzen Wissen über das TV? Vielleicht musste ich es einfach mal rausschreien (und ich bin nichtmal bei Castingshows und DSDS angekommen!), vielleicht lässt mir dieses Thema in dieser Woche einfach keinen Raum für irgendein anderes brisantes Thema. Wenn ich nun gerade an deutsche Kochshows denke, kocht bei mir so einiges über, vor allem vor Wut! Doch wie gesagt: Wer guckt diesen ganzen Scheiß eigentlich??? Ich weiß, ich bin es nicht. Wenn ich mir wirklich etwas Neues angucke (und bei Gott, ich habe gar nicht mehr die Geduld, jedem dusseligen TV-Format aus Deutschland noch eine Chance zu geben!), dann schalte ich spätestens nach zwei Minuten um, wenn mir etwas nicht gefällt. Aber wer sind denn nun die Idioten, die "Mitten im Leben" als lohnende TV-Unterhaltung betrachten? Immerhin haben solche Sendungen der Marke "scripted reality TV" (schönes Neudeutsch, nicht wahr?) Einschaltquoten, die eine Millionen Zuschauer bei weitem übersteigen. Gut, ich verlange jetzt nicht, dass blutrünstige Krimiserien im Nachmittagsprogramm laufen sollten, aber mal ehrlich: übergewichtige Frauen, die eifersüchtig ihren Freunden hinterherjagen und alles eine Stunde lang darin gipfelt, wer wen lauter anschreien kann? Wer nicht schon taub ist, wünscht sich nach 5 Minuten zugucken bei dieser Sendung die absolute Taubheit!

Wollen Menschen mit niedrigem Bildungsgrad wirklich dummes Fernsehen gucken? Sind sie wirklich gewillt, nur sensationslüsternes Schrott-TV zu schauen, statt sich durch das Fernsehen noch ein bisschen zu bilden? Gut, die Leute sind ja alle selbst Schuld, es gibt bildungsreiche Alternativen im TV. Bei denen schreien die Fans des "scripted reality TV"'s allerdings nur angewidert "igitt, igitt!". Ein Sender wie ARTE ist nunmal verschrieen, dass er zu langweilig ist und nur dazu dient, dass man sich doch ein wenig bildet. Zugegeben, vielleicht sind die Formate solcher Sender einfach etwas zu sehr auf Bildung getrimmt und dadurch nicht unterhaltend genug. Andererseits: könnten die Privatsender nicht auch solche Sendungen erfinden? Besser noch: Bildungssendungen, die noch zusätzlich den Faktor "Unterhaltung" beinhalten? Das Schöne an der Sache wäre immerhin: der Zuschauer würde was lernen und es würde die Privatsender fast weniger kosten, solche Sendungen zu produzieren, als den Doku-Glibber herzustellen, der sich inzwischen im TV tummelt.

Nun, es gäbe noch hundert Dinge zum Thema "Schrott-TV" zu schreiben. Vielleicht ist es an dieser Stelle wieder einmal Zeit für eine Blogserie. Immerhin wurde mir ja gerade eine gute Serie aus dem TV gestohlen. Was bleibt ist Fernsehunterhaltung "aus der Konserve". Sprich: ich wehre mich gegen den TV-Schrott und gucke mir dann doch lieber eigens ausgesuchte Unterhaltung von der DVD an. DAS ist dann wohl meine Freiheit und meine einzige Waffe, um mich gegen den Unsinn des täglichen TV's zu wehren.

In diesem Sinne wünsche ich den Lesern dieses Blogs ein schönes Wochenende und eine gute neue Woche. Bis zum nächsten Samstag und dem nächsten Blogeintrag - hoffentlich weniger TV-lastig! ;-)

LG Gene :-)

Sonntag, 8. April 2012

Atomarer Wortsalat oder: Die Wahl der Waffen = Worte

Es gibt wohl kein Thema der letzten Tage, was so heiß diskutiert wird, wie das der Prosa von Günther Grass zum Thema "Israel". Ganz unpassend ist das nicht, jetzt zum Osterfest, denn irgendwie wird doch immer wieder über Religion zum Fest des Todes und der Auferstehung von Jesus Christus diskutiert. Zugegeben, es diskutiert nicht jeder darüber, die meisten Menschen halten das Osterfest eh nur für das Fest des Osterhasen und der Ostereier. Warum Osterhase und Ostereier? Das fragt doch kein Mensch mehr, die Symbolik der Fruchtbarkeit kennen die Menschen meist sowieso nur aus dem eigenen Sexualleben. Da inzwischen nicht mehr mit Symbolik, sondern nur noch mit Aktion gearbeitet wird, interessiert das auch nicht mehr groß. Wichtiger als die Symbolik des Ostereis und die des Osterhasen ist wohl die Werbewirksamkeit der beiden Symbole. Hauptsache, alles ist bunt und konsumträchtig verpackt, dann klappt es auch mit den Verkaufszahlen.

Aber zurück zum Thema: die Religion. Es gibt wohl nur noch einen geringeren Anteil der Menschheit, die wirklich religiös lebt und in absolutem Gottvertrauen durch's Leben rennt. Die meisten Menschen verlassen sich inzwischen dann doch lieber auf die Kraft des Kapitalismus oder sie verzweifeln an gleicher. Gott ist zu einer Symbolfigur geworden, die viele Menschen oft als verstaubt ansehen mögen. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Menschen, die sich immer fanatischer in die Kraft der Religion begeben, eintauchen in den Pool aus Gebet und Tradition. Religion wird oft als letzter oder einziger Halt in einer sich ständig verändernden Welt gesehen... denn selbst wenn morgen die Welt auf dem Kopf steht, die Religion besteht aus Traditionen und unerschütterlichen Grundfesten. Unerschütterlich? Nun, sie hat sich auch verändert, die Religion, selbst sie, die "Mutter aller Stereotypen" muss sich irgendwann einmal anpassen in vielen Themen. Mit Verlaub, nicht in allen, aber in vielen. Speziell, um neue Mitglieder für die "gute Sache Gottes" zu rekrutieren. Vielleicht klingt das Wort "rekrutieren" an dieser Stelle zu sehr nach Al Qaida... doch mal ehrlich: es macht nicht solch einen wahnsinnig großen Unterschied, wohin ein Mensch rekrutiert wird. Wichtig ist, dass er manipulierbar ist. Ob diese Manipulation nun dazu führt, dass er zur Waffe greift und Unschuldige erschießt oder einfach durch das Leben geht und psychologisch Menschen beeinflusst, ist erst einmal unerheblich.

Vielleicht bin ich genau deswegen gegen die Religion als Massenphänomen. Es geht nicht in erster Linie um den Glauben an Gott, es geht um die Gruppendynamik, vergleichbar (damit es auch alle Jugendlichen verstehen!) mit der Dynamik sozialer Netzwerke. Immer mehr Menschen folgen dem Trend, keiner weiß irgendwann mehr, warum, aber ab einer gewissen Stelle wird alles akzeptiert, was nicht niet- und nagelfest ist. Wenn dann noch die Religion über den gesunden Menschenverstand gestellt wird, ist wohl die Zeit gekommen, an der es verdammt gefährlich wird. Nein, ich meine mit dem "gesunden Menschenverstand" nicht die Wissenschaft, sondern einfach das selbstbestimmte Denken eines jeden Individuums.

So gesehen ist es wohl auch zu erklären, warum dieser Tage so heftig debattiert wird über die Prosa von Günther Grass. Mit seinem "Werk", einem 69zeiligen Gedicht, in der er die Politik Israels an den Pranger stellt und dem Staat unterstellt, er gefährde den Weltfrieden, hat sich der Literaturnobelpreisträger innerhalb weniger Tage so viele Feinde gemacht wie die Kinder dieser Tage wohl Ostereier gesucht haben. Es stellt sich unweigerlich die Frage, wenn Grass die Politik Israels im Hinblick auf den Iran kritisiert und dafür erst heute von der Regierung als "Persona non grata" abgestempelt wird, ob man ein Land wie Israel überhaupt kritisieren darf. Oder besser gesagt: darf ein Deutscher Israel überhaupt kritisieren?

Gerade an diesem Feiertag wird wieder einmal die Symbolik eines tiefen Grabens wieder aufgewühlt. Ein Jude, genagelt ans Kreuz von den Römern, die selbst nicht das Wort Jesus Christus glauben wollten, um dann später die Religion selbst aufzugreifen und als Katholizismus unter die Leute zu bringen... allein diese Wendungen sind recht absurd, wenn man sie sich genau ansieht.

Religionskonflikte gab es seitdem (und auch bereits vorher unter anderen religiösen Gruppierungen) immer wieder, doch keiner ist wohl so im Gedächtnis geblieben wie der Antisemitismus unter Adolf Hitler, der versuchte, die nicht arische Rasse auszulöschen. Vor allem auf die Juden hatte es Hitler abgesehen, der Neid auf deren Geschäftssinn und die Meinung, dass sie unrein seien, sorgte für Hass und schlussendlich grenzenloses Leid. 6 Millionen Juden wurden durch den Holocaust getötet, hinzu kamen Millionen Soldaten im zweiten Weltkrieg und Millionen Zivilisten.

Genau auf diese Geschichte stützt sich seitdem jeder Streit zwischen Israel und Deutschland. Nun gab es keine ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern (es gibt wohl akutere Spannungen zwischen Ländern), aber die Beziehung ist wohl eine der fragilsten auf diesem Planeten. Die Aktionen dieser einen Vergangenheit Deutschlands wird dem Land wohl noch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts anhaften, egal, wie sehr wir uns wandeln und dem Rest der Welt öffnen, wie multikulturell wir sind. Irgendwo sind wir immer die Nazis, die Menschen, deren Vorfahren Adolf Hitler in seinem Wahn gefolgt sind. Anzumerken sei an dieser Stelle nur, dass diese Kritik meist von Menschen kommt, die nicht einmal genau über die Situation in dieser Zeit Bescheid wissen, keine Ahnung von der Machtergreifung Hitlers haben und nicht wissen, wie viele Menschen nun wirklich mit Herzblut Nazis waren und wie viele zu den Unterdrückten gehörten. Keine Verteidigungen an dieser Stelle, es ist nur so wahnsinnig passend, dass nun in der Sache Grass seine Vergangenheit als SS-Soldat ausgeschlachtet wird. So sagt der israelische Innenminister Eli Jischai, Günther Grass sei ein "antisemitischer Mensch" und man merke ihm seine Vergangenheit als SS-Soldat immer noch an.

Die Frage, die einem unwillkürlich da in den Kopf kommen muss: Wirklich? Ist Günther Grass ein Antisemit, weil er es in einer Demokratie für nötig hielt, Zustände zu kritisieren, die er für unangemessen hält? Es mag zweifelhaft sein, ob Grass mit seinen Aussagen zu 100% Recht hat (wirklich unwahr sind seine Aussagen auch nicht, allerdings müsste das Ganze wohl differenzierter betrachtet werden), es ist aber eine andere Frage, ob man ihm deswegen etwas unterstellen muss, was ihm nicht nachgewiesen werden kann. Hat er zuvor Äußerungen dieser Art gemacht und damit bewiesen, dass er antisemitisch veranlagt ist? Nein. Er schrieb selbst in der Prosa, er habe lange geschwiegen, gerade wegen der Vergangenheit Deutschlands und seiner eigenen und weil es als nicht statthaft gilt, sich als Deutscher kritisch gegenüber Israel zu äußern. Recht hatte er wohl, er hätte wohl besser die Klappe gehalten bzw. die Finger still!

Zumindest wird es so, wenn man sich jetzt die Reaktionen anguckt, in Deutschland wie in Israel. Wenn etwas eigentlich gar keine große Wirkung hat, dann blasen wir die Sache so lange auf, bis aus einem Luft- ein Heißluftballon entsteht, der locker ein Dutzend Menschen durch die Luft tragen könnte. Die Situation zwischen Israel und dem Iran ist kritisch. Punkt. Iran ist eine große Gefahr für die Welt, zumindest deren vom Wahn zerfressene Regierung rund um Ahmadinedschad. Punkt. Israel benimmt sich gerne und oft wie die Axt im Walde, wenn es um Drohungen gegen das Ausland geht, das ihm gerade nicht passt. Damit steht Israel dem Iran in nix nach. Nun kann man diese Mentalität bei Israel mit der Angst zu tun, die sie immer wieder treibt, die Vergangenheit, durch die sie tiefe Wunden mit sich herumträgt. Die Frage ist in der Sache Grass inzwischen nur, ob Israel nicht andere Probleme hat, die es zu bewältigen hat, als sich auf einen alten Schriftsteller einzuschiessen, nur weil er etwas kritisiert hat. Die Forderung des Innenministers, Grass nun den Nobelpreis abzuerkennen, ist schlicht lächerlich und entbehrt jeder Grundlage.

Ein Autor hat das Recht (und muss das Recht haben) zu kritisieren, zu polarisieren und seine Meinung kundzutun. Egal, ob diese Meinung der Menschheit nun passt oder nicht. Grass hat dies getan, ob wir nun für oder gegen seine Aussagen sind, spielt nicht wirklich eine Rolle. Jeder kann dazu seine Meinung kundtun, ihn allerdings jetzt zum "Musternazi" abzustempeln, ist schlicht widerlich. Nicht, weil er nie was mit der SS zu tun hatte, wir wissen alle, er hatte sich damals, als Grünschnabel, freiwillig bei der Armee gemeldet (wie fast alle seiner Altersgenossen zu dieser Zeit!). Der entscheidende Grund ist, dass diese Beleidigungen und Anschuldigungen an der eigentlichen Sache vorbeigehen. Merkwürdigerweise diskutiert jeder über die Zuständigkeit von Grass oder ob er so etwas überhaupt schreiben durfte. Was er nun geschrieben hat, ist im Ende völlig egal. Die Zeit, über das Geschriebene nachzudenken und zu analysieren, bleibt wohl nicht in der Hetzjagd auf einen neuen Staatsfeind. So hat speziell die BILD wiedermal den Vogel mit ihrer Schlagzeile über Grass abgeschossen (was allerdings nicht verwundert, immerhin ist diese Zeitung doch der Inbegriff der Hetzpropaganda).

Man kann nun für Grass's Meinung sein oder eben gegen sie, es spielt keine Rolle. Wir sollten uns vielleicht fragen, wo wir uns gerade befinden. Es ist Ostern, das Fest der Auferstehung von Jesus Christus, einer Symbolfigur sowohl des jüdischen wie auch des christlichen Glaubens. Traurigerweise entzweien wir uns alle in dieser Zeit mehr, als das wir zusammenwachsen. Wie gesagt, ich bin nicht religiös im Herdentierprinzip, wie es die meisten Menschen sind, aber die Frage muss gestellt werden, ob ein Mensch wirklich aufgrund seiner Herkunft abgestempelt werden darf. Das mag für Israel und die Juden gelten, aber auch speziell für die Deutschen. Das "Alle Deutschen sind Nazis"-Denken muss aus den Köpfen verschwinden, speziell aus den israelischen Köpfen. Nicht jeder Deutsche ist ein Nazi, auch nicht jeder, der es wagt, Israel zu kritisieren. Israel kann nicht den Freifahrtschein für jede Aktion erwarten aufgrund seiner von Zerstörung und Demütigung geprägten Vergangenheit. Auch Israel begeht Fehler, viele Fehler, speziell politische Fehler. Auch wenn der Iran zu einer großen Gefahr wird, ist Israel nicht die Weltpolizei, die alles im Alleingang regeln kann und soll.

Die Hoffnung liegt wie so üblich auf das Vergessen. Das Gedicht, die Reaktion Israels, die derzeitigen Anspannungen zwischen Deutschland und Israel, alles so wieder vergessen sein. In spätestens einem Monat wird das wohl der Fall sein. Oder es herrscht bis dahin kalter Krieg zwischen den Nationen. Einen Zwischenweg gibt es wohl nicht. Zu einer Lösung kann es nur kommen, wenn Israel lernt, mit Kritik angemessen umzugehen statt die beleidigte Leberwurst zu spielen. In der Vergangenheit hat Israel bewiesen, wie kritikunfähig die Regierung und Teile des Landes sind. Aber kann das wirklich alles gewesen sein? Ich glaube nicht daran. Die Menschen in Israel haben genug Grips zu verstehen, dass eine Kritik nicht primär ein Schlag ins Gesicht sein muss, sondern auch ein Denkanstoß zu neuen Lösungen sein kann. In der Sache Iran wird ein von Israel eingeleiteter Militärschlag nicht die Lösung sein, sondern nur zu einem neuen Krieg mit Tausenden von Toten führen. Kann das die wirkungsvollste und beste Lösung sein? Es wird wohl die naheliegendste sein, aber ob es die beste ist, darüber darf und muss gestritten werden.

Wenn Grass eins erreichen wollte, dann die Diskussion über Israel, doch er hat sich ein Eigentor geschossen. Ungewollt. Jetzt muss er mit den Konsequenzen leben, die seine Prosa verursacht hat. Es bleibt nur die Hoffnung, dass die Menschen endlich anfangen, über die politischen Schwierigkeiten, die Grass angesprochen hat, zu sprechen, statt über die Vergangenheit oder die mögliche Gesinnung des Autors. Die Kuh beim Schwanz anzupacken hat bis jetzt noch nie geholfen, Milch zu kriegen.

In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern ein schönes Osterfest und eine gute neue Woche. Bis zum nächsten Samstag.

LG Gene :-)

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