Samstag, 26. März 2011

Die Legende der Lemminge und "Zwischendenzeilen-Lesern"

Dieses Mal bin ich spät an - was nicht daran liegt, dass ich mir keine Gedanken gemacht habe oder machen konnte über das Thema diese Woche. Die Verspätung ist nur darauf zurückzuführen, dass einem manchmal das "Wie" fehlt, die Art, wie man den Leuten eine bestimmte Thematik näherbringt.

Doch wieso geht es um die Legende der Lemminge und "Zwischendenzeilen-Lesern", wo jeder doch nur über Japan und Lybien in den letzten Wochen redet? Ein anderes Thema scheint es kaum zu geben, irgendwie steht alles im Zusammenhang mit der Dramatik, die sich auf unterschiedlichste Weise in diesen beiden Ländern abspielt. Nur was haben die Lemminge, diese putzige Art der Wühlmäuse, mit Japan zu tun? Dazu später mehr.

Zunächst einmal müssen wir uns einer Tatsache stellen: wir haben mehr als eine Gemeinsamkeit mit Lemmingen. Nicht nur, dass wir alle Säugetiere sind, nein, das wäre ein wenig zu einfach. Dann könnte ich (wiedermal) die Menschen auch mit Katzen vergleichen. Doch zu diesem Thema gibt es einen großen Unterschied. Denn Katzen sind zwar gesellschafts- und soszialfähig, andererseits sind sie genauso gute Einzelgänger; das wiederum fällt dem Menschen doch reichlich schwer. Sich mit sich selbst zu beschäftigen fällt dem Menschen meist schwerer, als eine Doktorarbeit zu schreiben (dass beides in direktem Zusammenhang steht, lassen wir mal beiseite!). Mir geht es mehr um die Tatsache, dass nicht jeder Mensch eine Doktorarbeit schreiben kann; dazu ist nunmal nicht jeder intellektuell fähig (und nein, ich hacke nicht wieder auf Dr. (sorry, ehemals Dr.) Karl Theodor zu Guttenberg herum) und mit dem Alleinsein verhält es sich genauso.
Beobachtet man das Verhalten der Menschen, dreht sich vieles nicht nur ums Geld, es geht vor allem darum, miteinander Kontakt zu haben. Darum dreht sich ja auch das ganze Internet - es geht schon lange nicht mehr darum, Geschäfte über das Internet zu tätigen oder sich Wissen anzueignen, zuallererst beschäftigen sich die User damit, mit anderen Menschen (die ihnen meist völlig unbekannt sind) in Kontakt zu treten. Facebook, Twitter, wer-kennt-wen, Lokalisten.de - sind nur einige Beispiele (die wahrscheinlich bekanntesten im deutschsprachigen Raum) und es gibt ja noch viel mehr, denn wir halten es nicht mehr wie früher, indem wir uns Brieffreunde hielten, wir brauchen mehr! E-mails an Menschen schreiben war gestern und ist fast schon zu anonym. Heute geht es darum, miteinander schnell und möglichst öffentlich befreundet zu sein. Denn Freundschaften sind mehr als der Versuch, die Einsamkeit aus dem Wohnzimmer zu vertreiben - es geht darum, der Welt zu zeigen, wie beliebt man ist. 100 Freunde? Das ist jawohl das Mindeste, wenn man unter 10 Freunden hat, ist man eh ein Loser. Mit mehr als 1000 Freunden gilt man zwar schnell als Spinner bei denen, die nichts von anonymen Freundschaften halten, aber die meisten Menschen möchten am Liebsten auch zu der Liste der 1000 gehören, die auf der Liste dieses einen Helden sind, der anscheinend mit allen kann: Geschlecht, Alter, Religion, Sozialstatus? Egal, Hauptsache rauf auf die Liste!

Und genau damit sind wir schon bei der entscheidenden Parallele zwischen Menschen und Lemmingen angelangt. Laut Legende ziehen Lemminge durch die Tuntra und begehen auch mal gerne auf ihren Wanderungen eine Art Massenselbstmord. Dies ist allerdings (Sensationsgier darf an dieser Stelle wieder ausgeschaltet werden!) eine Legende und nicht dokumentiert. Wahr ist allerdings, dass diese putzigen Tierchen in Massen durchs Land ziehen und auf der Suche nach neuen Lebensräumen sind, was viele der Tiere nicht überleben. Und wenn ich sarkastisch wäre, könnte ich glatt behaupten, dass in Japan das Gleiche zur Zeit der Fall ist: die Menschen mussten vor den Wassermassen des Tsunamis fliehen, Hunderttausende befinden sich zur Zeit in Notunterkünften und keiner weiß, wie lange dieser Aufenthalt dauern wird. Dazu kommt dann die Atomkatastrophe, die uns alle natürlich viel mehr interessiert als das Schicksal der Menschen, die ihre Häuser, ihr gesamtes geregeltes Leben und Teile oder die komplette Verwandschaft verloren haben. Mitgefühl ist in heutigen Zeiten eben ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Und genau deswegen liegt der Fokus der Berichterstattung in den Nachrichten auf Fukushima I und nicht auf die Notunterkünfte, auf leidende Menschen und die Frage, wie diese Menschen ihr Leben wieder in den Griff bekommen sollen (wenn ihnen das je gelingen wird!).

Die Lage ist dramatisch in Fukushima und ich lese und höre viel von den "Fukushima 50", mit denen ich mich letzte Woche schon etwas beschäftigt habe. Dabei wird dann leider auch viel Blödsinn geredet, es wird davon geredet, diese Menschen würden das in Ahnungslosigkeit machen und nur für's Geld. Auf der anderen Seite kann man diese Kritiker auch fragen, was sonst getan werden sollte? Ich bezweifle, dass einer der Kritiker selbst nach Fukushima gehen und die Lage dort in den Griff kriegen will. Der Versuch dieser Menschen ist bewundernswert, auch wenn sie sich anscheinend nicht der Ausmaße bewusst sind, auch wenn sie nicht wissen sollten, dass ihre Lebenserwartung dramatisch sinkt. In dieser Thematik kann man sich auch fragen, ob wir wirklich alle 100 Jahre alt werden müssen? Es ist bekannt, in Japan werden die Menschen alt, sehr alt sogar (das wird hauptsächlich ihrer gesunden Ernährung zugeschrieben), aber muss deswegen automatisch jeder so alt werden? Und was nutzt es diesen Menschen, selbst wenn sie so alt geworden wären, in einer Welt so alt zu werden, die auseinanderbricht? Es wurde Mist gebaut, ganz schön viel Mist, dessen müssten sich doch eigentlich inzwischen alle bewusst sein. Das, was die "Fukushima 50" versuchen (zusammen mit vielen anderen Helfern, die im Übrigen fast gar nicht erwähnt werden!) ist, eine Katastrophe, die sowieso schon da ist, so weit wie möglich einzudämmen. Und es gibt doch weiß Gott genug Menschen, die jetzt schon über mögliche Spätfolgen krakehlen. Viele davon kommen (und das ist besonders traurig, wie ich schonmal gechrieben habe!) aus Deutschland. Dass wir uns immer noch über die Folgen für uns im Zusammenhang mit Fukushima I machen, ist nicht nur beinahe ein Skandal, es ist eine eigenständige für mich unbegreifliche Katastrophe.

Daraus entsteht dann unser eigenes, unser persönliches "Lemming"-Verhalten. Als ich diese Woche dann durch die Nachrichten sah, dass selbst die BRAVO, eine Jugendzeitschrift, die sich mit Themen beschäftigt, die noch banaler als die Jugend von heute sind, in dieser Wochenausgabe ein Poster mit dem Anti-Atom-Logo "Atomkraft? Nein Danke!" eingefügt hat, ist mir fast schlecht geworden. Natürlich denken die Menschen nun, die Jugend macht sich wenigstens Gedanken um die Umwelt, sie macht sich über die Versorgung des Landes mit Strom Gedanken. Aber stimmt das wirklich? Wenn man sich die Jugendlichen dann im Interview anhört, bekommt man nur Phrasen zu hören, die in jeder Nachricht laufen. Das soll eigenständige Meinungsbildung sein? Diese Meinungsbildung haben die BRAVO-Leser nur mit der BILD-Leserschaft gemeinsam: es geht darum, die Meinung der Massen zu vertreten, mit Individualität hat das, was von sich gegeben wird, sehr wenig zu tun. Der Aufkleber, Button, T-Shirt Aufdruck "Atomkraft-Nein Danke!" wird zum Modeaccessoire. Und wenn Karl Lagerfeld das geahnt hätte, er hätte diesen Trend wahrscheinlich bereits vor einiger Zeit aufgegriffen und auf den Laufsteg gebracht!
Das Ganze hat nichts mehr mit der Überzeugung zu tun, die Atomkraft abzuschaffen. Denn die, die diese Überzeugung schon immer hatten, haben auch immer für diese Überzeugung gekämpft. Eine Überzeugung hat nur wenig mit Nachrichten oder Aktualität zu tun, aber das wissen nur Diejenigen, die nicht dem Lemming-Verhalten verfallen sind. Die Masse liebt die Abwechslung, und die Abwechslung ist der Tod einer jeden Überzeugung, schlichtweg weil eine Überzeugung (und speziell ihre Vertretung) Ausdauer verlangt. Und Ausdauer ist das genaue Gegenteil von Abwechslung. Ausdauer ist genau das, was auch jeden Frühjahr Tausenden die Ambition, endlich Sport zu treiben, im Keim ersticken lässt. Wenn man sich wirklich dafür einsetzt, mehr Joggen zu gehen (oder, dass Atomkraftwerke abgeschaltet und durch alternative Energien ersetzt werden) bedeutet das, dass man einer Monotonie verfällt. Man propagiert immer wieder die gleichen Überzeugungen, gibt immer wieder die gleichen Parolen an verschiedenen Stellen von sich, bis man sich lächerlich vorkommt, schlimmer noch: man fängt irgendwann an, nicht mehr an das zu glauben, was aus dem eigenen Munde kommt.

Deswegen ist das Verhalten der Masse auch gestrickt, wie es gestrickt ist: heute Lybien, morgen Japan, übermorgen ein neuer Lebensmittelskandal, der beides wieder außer Gefecht setzt. Man redet immer gerne über das, was gerade so aktuell ist. Mitgefühl ist meist eine sehr geheuchelte Emotion in der heutigen Zeit, gerade, da alles sich immer schneller dreht, wie ein Kreisel, der besonders viel Antriebskraft erfährt. Es mag heute noch interessant sein, nach Fukushima zu schielen und der Welt inzwischen mit Hochgenuss zu erzählen, wie sehr man sich jetzt davor fürchtet, in einem in Deutschland ansässigen japanischen Restaurant Sushi zu essen, dessen Bestandteile allesamt NICHT aus Japan stammen - morgen ist diese Problematik für uns auch wieder vergessen.

Nur für die Menschen in Japan nicht. Die werden wahrscheinlich noch sehr lange in ihren Notlagern hängen und darauf warten, dass genug Hilfe eintrifft, die ihnen die Unterstützung bietet, die sie verdient haben. Der Rest ist Warten.

Gut, soviel zu den Lemmingen. Aber wir haben noch nicht über die "Zwischendenzeilen-Lesern" gesprochen, eine Gattung, die nur unter Menschen vorkommt und eigentlich nicht wirklich erkennbar ist. Sie wechselt auch ihr Erscheinungsbild, fast wie ein Chamäleon. Zwischendenzeilen-Lesern sind Indivualisten, das allerdings nicht ausschließlich. Sie können auch Opportunisten sein, wie sich gerde im Lybien-Konflikt zeigt.
Einerseits können Zwischendenzeilen-Lesern diejenigen sein, die gegen die Masse schwimmen und in Heuchelei auch das Unrecht erkennen. Es gibt aber auch die, die Zwischen den Zeilen lesen - und sich anschließend aus dem Staub machen! Zur zweiten Kategorie gehört wohl (wieder einmal) die schwarz-gelbe Koalition. Jetzt, da sich die Vereinten Nationen endlich mal dazu durchgerungen haben, gegen Gadaffi Maßnahmen zu ergreifen, die eigentlich ja schon fast wieder zu spät ums Eck kommen, sagt Madame Non wieder einmal "Nein" - bzw. diesmal ist es wohl eher Monsieur Non, Guido Westerwelle. Die schlimmste Krankheit, seit es FDP Politiker gibt, hat sich mal wieder die Ehre gegeben, gegen alles zu sein, wofür die breite Masse eigentlich wäre. Zumindest die breite Masse derer, die im Zusammenhang mit Lybien ein wenig ihren Verstand einschalten. Dass es an der Zeit ist, Gadaffi zu entkräften, ist wohl inzwischen vielen klar. Und trotzdem befürwortet die Mehrheit der Deutschen das "Nein" des Bundesaußenministers. Ob es die Angst vor Vergeltung von Seiten Gadaffis ist oder einfach die Faulheit, sich für jemand anderes als sich selbst einzusetzen, ist schwer zu sagen beim deutschen Volk. Auf der einen Seite haben wir keine Probleme, uns Buttons an die Jeansjacke zu stecken, die zwar eine politische Aussagekraft besitzen, aber nichts weiter bewirken, aber wenn wir uns dann politisch für etwas stark machen müssten - scheuen wir die Verantwortung gegenüber Menschen, die wir nicht kennen.

Schließt sich da wiedermal der Kreis? Es war auch schon oft zu hören, dass im Internet Selbstmorde auf Sozialnetzwerken angekündigt werden und keinen der Internetfreunde hat es interessiert. Es scheint, als wäre die Fürsorglichkeit mit dem "Accept"-Button unter eine geschlossene Freundschaft gestorben. Was danach ist, interessiert doch niemand. Was interessieren mich meine Internetfreunde, was interessieren mit die Menschen in nordafrikanischen Staaten, die ich nicht kenne? Die Angst ums eigene Leben (oder das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit jedes Einzelnen) ist doch zu groß.

Im Massenphänomen ist doch schlussendlich jeder für sich selbst verantwortlich. Und wenn es das Massensterben der Lemminge je gegeben hat - manchmal wünscht man sich, dieses Massensterben würde bei den Menschen stattfinden. Nicht im körperlichen Sinne - einfach das Bedürfnis, ständig dem neuesten Trend in jeglicher Form hinterherzuhetzen, könnte doch so langsam mal aussterben. Es wäre sinnvoller und besser für die Welt, als wir alle denken.

In diesem Sinne - ein schönes Wochenende

LG Gene ;-)

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