Donnerstag, 19. März 2009

Buchstabensuppe und Russisch Brot im Sprachgebrauch

"Ich lese, also verstehe ich. Ich verstehe, also kann ich. Ich kann, also werde ich. Ich werde also.... bin ich?"

Hmm, nicht wirklich! Man ist nicht zwangläufig existent, nur weil man lesen kann. Nein, eigentlich ist es eher umgekehrt: man ist schon da, und DANN lernt man irgendwann (die einen früher, die anderen später) das Lesen. Wenn man lesen kann. Gut, es gibt eine erstaunliche große Anzahl Analphabeten in Deutschland (laut Statistik gibt es unter den Erwachsenen 0,6 % totale und 6,5 und 11,2 % funktionale Analphabeten... wer die genaue Zahl will, der kann sie ja ausrechnen ;-)). Trotzdem: diese Menschen SIND ja auch - sonst wären sie nicht da. Also, trotz der Schwäche nicht lesen und schreiben zu können, sind diese Menschen da. Und damit kann man nicht behaupten, dass man existiert, nur weil man liest.

Ein Leben hat schließlich jeder, ob er schreiben kann oder nicht, lesen kann oder nicht. Schließlich gibt es - abgesehen von den Analphabeten! - genug Menschen, die des Lesens zwar mächtig sind, davon aber unter keinen Umständen Gebrauch machen. Bei der heutigen Einstellung würde ich sogar schätzen, dass mindesten 2/3 der Deutschen vom Lesen an sich gar nichts halten. Doch diese Menschen leben - und sie leben sehr gut. Immerhin, es ist noch niemand an akutem Lese- oder Informationsmangel gestorben. Zumindest nicht auf direktem natürlichen Wege.

Erstaunlich ist da doch (da wir das Lesen vom Grundbedürfnis her gar nicht benötigen!) es immer noch viele Menschen gibt, die lesen WOLLEN. Menschen, die gegen den Verdummungsstrom nach der Formel "(D.Bohlen + Mario B.)² + Werbung³ : akuten Intelligenzverfall" (Anmerkung: der Faktor "Verona P." ist in dieser Gleichung indirekt in den Faktoren "Dieter B." und "Werbung" enthalten) schwimmen. Diese Menschen schalten immer öfter den Fernseher aus, lassen das, was sowohl die Öffentlich Rechtlichen als auch die Privaten uns tagtäglich offerieren, einfach links liegen und begeben sich in die bunte Tanzwelt der Buchstabenkombinationen auf chlorfrei gebleichtem Papier.

Erstaunlicherweise sind diese Menschen nicht allesamt über 80 und heißen mit Familiennamen Reich-Ranicki. Sie stehen mitten im Leben, als Arbeitergeneration, die noch Steuern zahlt und mindestens 8 Stunden am Tag arbeiten geht. Und doch, es droht Gefahr, denn diese Generation ist akut vom Aussterben bedroht. Die Anzahl derer, die gerne und viel lesen, ist nicht unbedingt gering, auch die Jugendlichen werden diesmal nicht gescholten (oder nur auf halbem Wege), dass sie zu wenig lesen. Während sich ein kleiner Kreis der Leute gerne und mit Leidenschaft mit Büchern beschäftigt, sind die meisten Leute der Meinung, ein Buch zu lesen, seine Augen und seinen Kopf gleichzeitig anzustrengen und zusätzlich mit den Händen immer mal wieder die Seiten umzublättern, wäre genau das Multitasking, dass nahezu an "Mission:Impossible" grenzt.
Wo das Lesen an sich eigentlich eine simple Form des "Multitaskings" ist, stellen sich die Meisten quer, wollen lieber am Computer sitzen, gleichzeitig Chatten, Musik hören UND bei youtube die neuesten Videos angucken. Und plötzlich ist "Multitasking" die schönste Freizeitbeschäftigung der Welt.

Dagegen ist ein Mensch, der liest, gerne mal unter die Kategorie "Streber" abgestempelt. Wenn er dann noch in Sichtweise einer wichtigen Person (Lehrer oder Chef) liest, gilt er direkt als "Schleimer", weil ein Mensch der liest angeblich überall demonstrativ zeigt: "Seht her, ich bin schlau - ich kann lesen!"
Obwohl... stimmt das wirklich? In der heutigen Zeit, in der die meisten Menschen eigentlich (abgesehen von der oben genannten Gruppe) lesen und schreiben können? Wir leben schließlich nicht mehr im 15. Jahrhundert, in der Maler dem Volk Bibelgeschichten durch Gemälde näherbringen mussten.

Lesen ist kein Mysterium! Wir können alles lesen, was wir wollen, ohne Einschränkung. Und wenn wir etwas nicht lesen können, weil es z. B. aus einem Skript besteht, das wir nicht beherrschen, dann lernen wir dieses Skript eben. Oder (noch einfacher!) wir besorgen uns die "recycelte und synchronisierte Version" im Buchhandel.
Doch ein Buch wie die Bibel kann heutzutage jeder lesen, auch wenn es die Meisten (inklusive mir!) nicht gerne tun. Das hat allerdings nicht mit mangelndem Latein-Verständnis zu tun, immerhin wurde die Bibel in sämtliche Sprachen übersetzt und man kann sich jederzeit den Spaß erlauben, die einem bekannten Geheimformeln (genannt: Buchstaben) zu entziffern und einen Sinn daraus zu sehen.

Gut, ich neige wiedermal zum Schweifen durch Raum und Zeit, zurück zum Thema. Warum lesen wir nicht, nicht mehr? Mag sein, das Lesen ist uncool, das Lesen ist anstrengend - aber das Gleiche könnte ich auch vom Leben an sich behaupten, das gibt ja auch keiner auf!

Klar, zum Lesen braucht man Zeit. Aber es ist wie in dem Film "The Namesake", in dem gesagt wird "Lesen ist die einzige Möglichkeit zu reisen, ohne sich dabei einen Zentimeter fortzubewegen."
Und das gelingt höchst selten mit einer DVD oder einer Fernsehshow à la DSDS. Wenngleich ich zugeben muss: wer das Feeling einer Irrenanstalt braucht, kann die Sendung gerne gucken. Denn wer Nervendrama und Hauen und Stechen braucht, ist bie "Deutschland sucht den Superstar" an der richtigen Adresse.

Da der Bequemlichkeitsfaktor allerdings immer mehr Einzug hält, wird das Buch mehr und mehr verdrängt vom Fernsehen und Internet. Dann werden Filme geguckt, um in eine andere Welt zu entfliehen, es werden andere Kulturen immer per Fernsehen oder Internet aufgesucht - immer in der Hoffnung, der Realität weitaus näher zu kommen, als es die Vorstellungskraft beim Lesen eines Buches zu leisten vermag.

Nun bin ich ein großer Anhänger und Freund indischer Filme, so weit so gut. Ich schließe mich auch nicht aus der "Leselustlosigkeit" aus, trotzdem versuche ich, mein Wissen immer über das Lesen verschiedenster Lektüren zu vertiefen. Doch wenn Otto Normalverbraucher in eine Welt eintauchen will, sieht er sich grundsätzlich alles im Fernsehen an. Welches Prinzip dabei in Kraft tritt? Immer das (wie in allen Lebenslagen) Prinzip der Masse. So wie wir massenweise Buchstabennudeln in der Tütensuppe haben (oder zumindest versprochen bekommen), so geht der Mensch immer gerne den Weg, der am Meisten diskutiert, der am populärsten ist.

Und so kommt es (oh Wunder!), dass diese Woche mit Spannung ein Film erwartet wird, mit dem keiner gerechnet hat: "Slumdog Millionaire". Ein INDISCHER Film. Ich habe die letzten Jahre ja festgestellt, dass der indische Film nirgends so gewaltig verteufelt wird wie hier in Deutschland. Trotzdem wollen alle diesen Film sehen - wegen der 8 Oscars, die er gewonnen hat. Dass der Film dadurch nicht weniger indisch wird, sehen die Wenigsten. Groß wird der Film angekündigt als ein "Eintauchen in die Slums von Mumbai", sprich: der Großstadttourist aus Deutschland bekommt exklusiv, schonungslos, dafür aber ohne Geruchsbelästigung die schönsten Elendsgeschichten aus Indien zu sehen. Slumkinder, Dreck, dazwischen immer wieder bunte Farben und rhythmische Klänge indischer Musik - die Deutschen "tauchen" ein in den Morast indischer Ghettos. Was sie sonst immer für zu kitschig, zu schillernd, mit zu hohen Frauenstimmen versehen empfinden, ist diesmal "hohe Kunst" und jederzeit wert, angesehen zu werden.

Nun, der deutsche Zuschauer hat allerdings Glück bei der Reise nach Indien: für das faule deutsche Publikum wurde der Film aus dem englischen bzw. hindi schön ins Deutsche übersetzt. Wenn der Zuschauer sich einen Film im Original angucken müsste, müsste er schließlich Untertitel LESEN. Und lesen kann man in der heutigen Zeit doch niemandem mehr zumuten, oder? Wenn die Leute Untertitel mitlesen bei einem Film, dann könnten sie ja gleich ein ganzes Buch lesen. Komplett ohne Bilder! Ein für die Mehrheit der Deutschen unbeschreiblicher Horror: ein Buch zu lesen hieße schließlich auch, es zu verstehen. Ein Text muss immer verstanden werden, damit er im Kopf in Bilder transformiert werden kann. Damit schließt sich dann wohl der Kreis: aus Buchstabensuppe und Russisch Brot kann man kaum die Weltgeschichte zusammenbasteln. Und ein Text, der gelesen und nicht einmal mit genug Energie verschlungen wird, dass die Phantasie mit dem Leser durchbrennt, ist nicht verstanden worden.

Vielleicht stimmt die Hypothese meinerseits ja doch im Ende: erst wenn man liest, ist man! Denn wenn man liest und versteht, dann kann man auch aus dieser Erfahrung aktiv sein Leben gestalten. Und wenn es nur mit Phantasiegeschichten ist.

Ohne Bücher leben geht natürlich, ohne zu lesen kann man auch durch die Welt gehen - die Frage ist nur: was wird man, wenn man nicht lernt und dadurch nichts kann? Die Existenz ist zwar vorhanden, aber im Ende genauso wirkungsreich und sinnvoll wie ein Staubsauger im Garten. Wer braucht das schon?

In diesem Sinne, eine schöne Restwoche noch

LG Gene

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo Gene,

als dein Stammgast hab ich natürlich auch gleich diesen Blog gelesen. Bin wieder mal begeistert.

Gut beobachtet, unterhaltsam geschrieben und - du regst wieder mal zum Nachdenken über sich selbst und den Rest der Welt an.

Liebe Grüße
Peter

Anonym hat gesagt…

Zum Film ja alle wollen den Slumdog Millionär sehen aber warum denn nur???Normaler weise sollte man diesen Film Beukotieren.Warum? Haben die Indieschen Slum -Schauspieler das bekommen das was sie versprochen bekommen hatten.-Nein.!( Das Haus ,Die Schul besuche wo bleibt denn das alles??
In Indien war der Film nicht so Erfolgreich warum? Naja die sehen ja die Armut, kriminalität jede Secunde .Wir dagegegen schauen da rein und denken Gott sei Dank geht es gut.In diesem Sinne Lg Monika

English Blog