Freitag, 22. April 2011

Ans Kreuz genagelt - Leben und Tod im Jahr 2011-2050!

Für den heutigen Tag gibt es wohl keinen passenderen Titel - und auch kein passenderes Thema. Am heutigen Tag steht wieder einmal die Welt (scheinbar) still: es ist Karfreitag, der Tag, der für viele Christen der höchste Feiertag ist. Heute auf den Tag jährt sich wieder einmal der Tag, an dem Jesus Christus (laut Glauben) per Kreuzigung hingerichtet wurde. Und an diesem einen Tag prallen gerade heute die Extreme aufeinander: es soll der Tod des Heilands betrauert werden, gleichzeitig wird das Leben gefeiert (spätestens am Ostersonntag, in dem durch Auferstehung klar werden soll, dass mit dem Tod nicht alles endet). Doch ich möchte hier und heute nicht religiös werden, das ist auch nicht der Sinn meines Blogs heute. Mehr Grund zum Nachdenken schafft die Tatsache, was wir heute vom Tod denken.

Noch nie war der Tod so nahe und so weit weg von uns allen wie heute. Wir sehen durch das Fernsehen (und Internet) alles, was wir wollen. Einerseits wird das Leben in den schillerndsten Farben abgebildet, in zahlreichen Variationen wird uns gezeigt, wie erstrebenswert es ist, mindesten 200 Jahre alt zu werden. Auf der anderen Seite dürfen wir den Tod in allen Facetten betrachten; das dann allerdings nicht auf einer philosophischen oder intellektuellen Basis, nein! Neue Sensationen braucht die Welt, in der wir leben. Und dabei benehmen wir uns (wie mit vielen) wie bei der Schraube im Holzbalken, die immer weiter gedreht wird, bis sie überdreht nur noch an einer Stelle munter zu Tode gedreht werden kann.

Wenn wir das Fernsehen und den Computer anschalten, sehen wir, wie Menschen sterben... und selten hat es uns so wenig gekratzt wie heute! Vielleicht ist es das "Verschleißprinzip": je öfter man etwas sieht, desto mehr gewöhnt man sich daran. Wenn man einen Menschen jeden Tag sieht, kann man sich nicht vorstellen, wie das Leben ist, wenn er mal nicht mehr da ist. Und dabei spielt es auch keine große Rolle, ob man diesen Menschen wirklich gerne sieht oder nicht. Die Routine gibt uns Sicherheit, sorgt aber auch für Resignation. Denn alles, was wir zu Hauf sehen, hat die Tendenz, irgendwann uninteressant zu werden. Egal, ob es da um Gesichter geht, die wir ständig sehen, das immer gleiche Fernseh-Programm, der nie wechselnde Sexpartner - alles bewegt sich sowohl auf einer positiven als auch auf einer negativen Seite.

Und genauso verhält es sich mit dem Leben insgesamt - je länger wir leben, desto mehr gewöhnen wir uns an das Leben und können uns gar nicht vorstellen, dass es irgendwann einmal vorbei sein wird. Wenngleich wir oft den Verdruss verspüren und uns tödlichst langweilen in unserem Leben. Je älter wir werden und je näher wir groteskerweise an den Tod herankommen, desto weniger verstehen wir, dass "Gevatter Tod" (wie man früher glaubte) wirklich einmal an die Tür klopfen wird.

Das Leben hat sich verändert in den vergangenen Jahrhunderten, diese Tatsache wird wohl kaum einen überraschen. Aber nicht nur die Technik und das reichhaltigere Essen (bei dem wir schon gefährlich nahe an den Film "Das große Fressen" von Marco Ferreri herankommen) sorgen dafür, dass wir anscheinend mehr als ewig leben. Wir helfen auch gerne nach, damit wir möglichst alt werden: wir treiben Sport, damit das Herz größer wird und kräftiger pumpen kann, wir ernähren uns so fanatisch selektiv gesund, dass wir bald nicht mehr wissen, wie wir noch mehr als das Maximum aus dem "täglich Brot" herausnehmen sollen. Und wenn das alles nicht mehr hilft und wir anfangen auch nur entfernt nach Alter auszusehen, wir alles auf Jugend umgekrempelt: von jugendlicher Kleidung als erste bis zur Schönheits-OP als letzte Instanz ist alles vertreten und wird (je näher wir an das Rentenalter kommen) mit immer größerer Überdrehtheit angewendet.

Noch nie haben wir mit mehr Sensation dem Voyeurismus nach Tod mehr Ausdruck verliehen - Hauptsache, wir sind nicht selbst diejenigen, die sterben! Zuletzt ist mir das bewusst geworden, als ich die Livebilder im Fernsehen mit ansah, als die Tsunamiflut auf das japanische Festland traf und alles mit sich riss, was sich ihr in den Weg stellte. Surreal erschienen mir damals diese Bilder, wie die zerlaufenden Uhren bei Salvatore Dali's Bildern und sich wirklich der Tatsache bewusst zu werden, dass dort Tausende von Menschen ihr Leben verloren haben, wird wohl nur eine geringe Minderheit verspürt haben. Woran das liegen mag? Vielleicht weil wir schon zu oft den Tod in Filmen gesehen haben - überall explodiert alles, was die Special Effects Technik hergibt. Wenn es in Filmen wie "Die Hard" 200+ mal kracht und explodiert, denkt keiner daran, dass bei diesen Explosionen Menschen sterben könnten. Kein Wunder! Bruce Willis überlebt ja immer - der Mann ist doch aus Stahl (oder hatte einfach ein verdammt gut auf ihn zugeschnittenes Drehbuch). Aber was hatten die Menschen in Japan? Die Bilder des Tsunamis verliefen im Gegensatz zu actionreich umgesetzten Szenen in Hollywoodfilmen wie ein wie in Zeitlupe verlaufendes Szenario, das entweder an den 50er Jahre Film "Der Blob" mit Steve McQueen oder an eine riesige überlaufende Badewanne erinnerte. Kaum einer misst dieser Katastrophe dadurch den Stellenwert bei, die sie eigentlich besitzt.

Unglaubwürdig, meint ihr? Nun, was war mit anderen Katastrophen, die wir "Live on Air" miterlebt haben? 9/11? Die Boxing Day Tsunami Flut, die 250 000 Menschen das Leben kostete? Wenn diese Katastrophen als Fiction im Kino anlaufen würden, wären diese Filme absolute Flops. Denn das Sterben vor laufender Kamera muss dem Zuschauer Spaß machen, die Menschen müssen vor der Linse in die Luft fliegen, erst dann schmeckt das Popcorn. Wie gesagt, so lange wir selbst nicht sterben, ist für uns alles in Butter, dann können wir den Tod als abendfüllende Unterhaltung genießen. Nicht bei 9/11 - bei Actionfilmen schon. Die Terroranschläge auf die Twin-Tower war eine der schrecklichsten Katastrophen der Neuzeit, keine Frage. Und ich möchte niemand wirklich unterstellen (oder sagen wir besser, der großen Masse nicht) dass wir uns an diesen Bildern ergötzt haben. Nur erinnere ich mich selbst, als ich damals die Livebilder im TV sah, dass die Vorstellungskraft nicht ausreichte um zu kapieren, dass bei den Anschlägen im Ende über 3000 Menschen ihr Leben verloren. Vielleicht hatten wir diese Szenarien einfach schon zu oft (und mit mehr Effekthascherei) im Kino gesehen. "Und überhaupt: was interessiert mich der Tod anderer, wenn ich ein Leben lang versuche, meinen eigenen in die dunkelste Ecke zu verbannen?" Dieser eine Gedanke mag vielen Menschen durch den Kopf gehen, die krankhaft nach Jugend und Ewigleben streben.

Zurück zum Film "Das große Fressen": In diesem wurde schon damals (1973) deutlich, auf welchen Abgrund wir zurasen würden (und immer noch zurasen, wenn wir die Zukunft in dieses Denken mit einbeziehen wollen): da wir alles haben und nichts mehr erreichen müssen versuchen wir alles, unser eigenes Leben herauszufordern. Wie weit können wir gehen, bis das Leben uns unsere Grenzen aufzeigt? Während wir heute an Gummiseilen Brücken hinunterspringen, waren die vier Hauptfiguren des Films ihr eigenes Leben so "satt", dass sie beschlossen, durch übermäßiges Fressen ihr Leben zu beenden. Der Film galt damals als Skandal, heute müsste dagegen unser Umgang mit dem Leben als Skandal gelten.

Natürlich möchte ich jetzt keine Predigt im Stil der katholischen Kirche abhalten, wie wertvoll das Leben ist. In vielen Fällen ist es das nämlich nicht! Es gibt so viele Faktoren, die das Leben vieler Menschen zur Hölle machen und irgendwie ist mir in dieser Woche diese Tatsache weitaus mehr aufgefallen als sonst. Das mag daran liegen, dass am Feiertag, an dem Jesus gekreuzigt wurde, mit bedacht Filme ausgesucht wurden, die sich spezifisch um Leben und Tod drehten. Oder es liegt daran, dass wir immer gleichgültiger dem Leben und dem Tod gegenüber sind. Das Leben ist für uns einerseits so schön in manchen Momenten, dass wir diesen einen Moment am Liebsten in der Dauerschleife erleben würden. Auf der anderen Seite leiden wir unter einer kollektiven Depression aufgrund von Übersättigung, dass unser Leben im nächsten Moment am Besten vorbei wäre. Wir sind in Massen das geworden, was Ferreri in "Das große Fressen" dargestellt hat: unzufrieden, von unserem Glück so überrannt, dass wir anscheinend große Schmerzen brauchen, um dann das Glück, das inzwischen in weite Ferne rückt, wiederhaben zu wollen. Erst, wenn wir uns die schlimmen Schicksale anderer vor Augen führen lassen, sind wir wieder zufrieden mit dem Leben. Es scheint, als bräuchten wir das Leid anderer wie einen Heroinschuss, damit wir uns wieder ganz high im Leben fühlen. Frauen werden in afrikanischen Ländern massenweise in Bürgerkriegswirren vergewaltigt, Kinder werden ebenfalls vergewaltigt, alle werden abgeschlachtet oder für's Leben verstümmelt. Das mag dazu führen, dass wir aus Mitgefühl und Mitleid Trauer in unseren Herzen fühlen. Im nächsten Moment sind wir aber direkt wieder froh, in unserer kleinen Spießbürgerwelt zu hausen. Ja, leider hilft es, wenn man das Elend anderer sieht, sich selbst besser zu fühlen. Keiner würde das zugeben (und ich glaube auch nicht, dass etwas Perverses dahintersteckt), wir führen uns halt nur nicht pausenlos vor Augen, wie schrecklich das Leben sein KÖNNTE, wenn wir an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten in bestimmten Konditionen wären. Wenn wir das täten, würden wir ja verrückt werden!

Am heutigen Tag sollte uns mal wieder bewusst werden, dass wir nur limitiert auf diesem Planeten bleiben werden. Manche (oder auch ein paar mehr, wenn man sich die Wohlstandsgesellschaften heute anguckt) wollen länger bleiben als die, die jeden Tag darum kämpfen müssen, regelmäßig Essen und Trinken auf dem Tisch zu haben und ein Dach über dem Kopf; oder auch diejenigen, die ihr Leben nus mit vielen Einschränkungen leben können. Denn nicht nur Mangel an Wohlstand lässt unser Leben erscheinen, als würden wir mit beiden Füßen tief im Morast stecken... auch eine Behinderung oder schwere Krankheit oder (bei alten Menschen) das Dahinvegetieren in Krankenbetten im Altenheim können bei uns den Wunsch ersticken, für immer hierbleiben zu wollen. Wenn wir schon ewig hierbleiben wollen, dann bitte als ewig 20jährige mit dem Verstand von 55jährigen (wenn die Intelligenz durch Demenz danach abbauen würde, wollen wir das natürlich auch nicht).

Wie Recht Oscar Wilde mit seiner Geschichte über "Dorian Gray" in Zukunft haben würde, hätte er im Leben wohl nicht für möglich gehalten. Oder es hat sich schlichtweg schon in der damaligen Zeit abgezeichnet, dass wir irgendwann gewaltig "ein Rad ab" haben würden. Schließlich vollzieht sich Größenwahn und Schizophrenie auch nicht von einem Tag auf den Anderen.

Jede Entwicklung beginnt klein und endet in der großen Katastrophe. Wie unser heutiges Verhältnis zu Jugend, Schönheit, Alter und Tod. Und genau in den Relationen denken wir: es gibt nur "Jugend" assoziiert mit "Schönheit", und "Alter" mit "Tod". Dazwischen werden Verknüpfungen erstellt, die nur in Einzelfällen zutreffen und nie auf die breite Masse anwendbar wären. Die Schraube dreht sich eben weiter: hin zu noch mehr Jugend, die noch schöner sein will, damit sie dank Photoshop zu Androiden modelliert werden und die Alten, die immer länger leben und nie alt werden wollen, geben sich immer mehr der Illusion hin, dass künstlich gemacht schöner ist als das, was man in der Jugend je hatte. Erst, wenn die letzte Lippe aufgespritz, das letzte Schlupflid weggeschnitten und die letzte Frauenbrust aufgepumpt wurde mag es passieren, dass sich ein ganz anderes Bild von der eigenen Schönheit präsentiert. Denn auch im Fall "ewige Jugend" gilt das Gleiche als das, was ich zuvor mit dem Leben an sich angesprochen habe: je länger alles immer gleich bleibt, desto mehr schleicht sich die Routine ein - und desto mehr wünschen wir uns, wir würden am anderen Ufer des Flusses Leben stehen.

Vielleicht lernen wir eines Tages doch wieder etwas aus den Traditionsgeschichten der Bibel. Nicht, dass wir uns Wort für Wort der Bibel zuwenden und in ihr das Seelenheil suchen sollten um jeden Preis; das würde wieder in den Fanatismus führen, den kein Schwein wirklich braucht, weil wir uns dann im gleichen Kreis nur um ein anderes Thema drehen würden. Alles, was wir eventuell zu verstehen lernen müssten ist, dass wir zwar in einer Welt leben, die von Konkurrenz dominiert wird, die uns allerdings zu keinem Zeitpunkt zwingt, diese Konkurrenz auszuüben. Sprich: schön für die, die meinen, 200 Jahre wie 20jährige aussehen zu müssen, aber müssen alle wirklich nachziehen? Haben wir wirklich den erhofften Vorteil, wenn wir uns alle benehmen, als wären wir bei "Deutschland sucht den Superstar" oder "Germany's next Topmodel"?

Das Leben ist mehr als nur Konkurrenz - und der Tod kommt schneller um die Ecke, wie wir alle einen Atemzug ziehen können. Es scheint, als sei der Tod (bis auf die Ausnahmen Suizid und Euthanasie) das Einzige, was wir nicht beeinflussen können, weder durch finanzielle noch emotionale Bestechung. Wenn er kommt, wird er bleiben - und wenn wir bis dahin unser Leben im Konkurrenzkampf verschwendet haben, werden wir uns ärgern, nicht wirklich etwas aus unserem Leben gemacht zu haben.

In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern erholsame Osterfeiertage mit einem kräftigen "Ja!" zum Leben, wo es angebracht ist und dem Freiraum für Zweifel am Leben, wo sie angebracht sind. Bis zum nächsten Freitag!

LG Gene ;-)

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