Samstag, 21. April 2012

"Back to normal": sind wir noch verrückt?

In dieser Woche begann in meiner Heimatstadt Trier das allgemeine Wandern der Wallfahrer zum "Heiligen Rock", der im Trierer Dom ausgestellt wird. Damit beginnt dann der vierwöchige Wahnsinn mit plärrenden Wallfahrtsschulklassen und jeder Menge Menschen, die einfach mal gemütlich in der Gegend herumstehen. Schön für die Wallfahrer, recht nervig für all jene, die in der Stadt leben und möglichst schnell von A nach B kommen wollen. Aber so ist das nunmal bei Großveranstaltungen - mir tun damit jetzt schon die Einwohner von London leid, die im Sommer miterleben dürfen, was es heißt, mit mehr Schwierigkeiten als sonst zur Arbeit zu kommen. Die Olympischen Sommerspiele stehen in der Stadt an und damit haben die Londoner einiges, auf das sie sich "freuen" dürfen: viel zu viele Touristen, ein riesiger Schuldenberg, den die Stadt wohl erst in 20 Jahren einigermaßen abbezahlt haben wird, Terrorgefahren noch und nöcher... ja, es ist schon schön, wenn man Teil eines großen Ganzen ist (egal, wie sehr man es wirklich braucht!). Nein, ich spreche mich nicht gegen die Olympischen Spiele aus, der Hype darum nimmt nur Dimensionen an, die geradezu lächerlich sind.

Aber (damit zum Stichwort): Lächerlichkeiten gibt es wohl schon so viele auf dieser Welt, dass das Durchschnittliche gar nicht mehr auffällt. Durchschnittlich war gestern (oder eher vorvorgestern), heute ist es mehr denn je angesagt, aus der Reihe zu tanzen. Dumm nur, wenn dadurch so viel aus der Reihe tanzt, dass es gar keine Reihe mehr gibt. Chaos ist das Endergebnis und die Menschen wissen gar nicht mehr, wo die Leitlinie eigentlich ursprünglich mal war.

Am Montag begann nun der Prozess gegen Anders Behring Breivik, der Mann, der im letzten Jahr bei einem unfassbaren Amoklauf insgesamt 77 Menschen tötete - und unzählige Menschen (auch wenn sie nicht dabei waren) traumatisierte. Nicht nur die Überlebenden leiden unter den Wunden dieses Tages, auch viele Unbeteiligte in Norwegen und auch in anderen Ländern fragen sich seitdem, welche Motive hinter dieser Tat stecken könnten. Natürlich ist klar, warum Breivik meinte, das zu tun, was er tat. Aber befriedigt diese Begründung? Kampf der Multikultur und speziell dem Islam? Macht das wirklich greifbar, warum ein Mensch so viele unschuldige Menschen tötet? Wenn man  über dieses Geschehen und den Prozess diskutiert (und ich hatte das "Vergnügen" in dieser Woche), stellt sich inzwischen vordergründig die Frage, wie der Täter nun bestraft wird. Wieviele Jahre Haft sind gut genug für ihn? Und: ist er zurechnungsfähig oder nicht? Geisteskrank oder gesund - das ist wohl hier die Frage. Zumindest ist das die einzige Frage, die vordergründiig die Presse interessiert - während das Thema in Norwegen vorwiegend ausgeklammert wird (um Breivik nicht die Show zu geben, nach der sich der Narzist so sehr sehnt), wird das Thema in den meisten deutschen Presseplattformen lang- und breitgetreten. Egal, welche Konsequenzen das Ganze hat, Hauptsache ist doch nur, dass die Presse eine Schlagzeile hat.

Den ruhmesreichen Ehrenplatz unter den Widerlichkeiten der deutschen Presse nimmt wohl wieder einmal die Tageszeitung mit den vier Buchstaben ein. Breivik im Großformat, reißerischer Titel - frei nach dem Motto:Schlagzeile gefunden - Sensationsgier befriedigt - Mission geglückt!" Überrascht kann man darüber nicht sein, die BILD ist für dieses Verhalten bekannt, gleichermaßen geliebt und geächtet und sie wird sich wohl auch nicht mehr zum Positiven verbessern. Das ist die traurige Realität der Zukunft: es wird nicht mehr bescheidener oder normaler - alles, was heute noch als außergewöhnlich oder verrückt gilt, ist morgen schon "normal". Der Stempel "normal" bezeichnet im Ende nur Dinge, die alltäglich sind und so oft vorkommen, dass sie nicht mehr auffallen. 

Das Mobiltelefon? In den 80ern noch außergewöhnlich, teilweise als "bekloppt" abgestempelt (und man konnte es den Skeptikern damals nicht verübeln... Menschen, die mitten auf der Straße quasi mit sich selbst reden und einen Backstein am Ohr tragen, sind nicht gerade für Voll zu nehmen!). Heute jedoch ist das Mobiltelefon nicht mehr aus dem Leben der Menschen wegzudenken. Es fragt sich allerdings wieso! Ich sehe immer noch ein, dass ein Mobiltelefon Leben retten kann und sehr praktisch im Alltag ist. Andererseits führt es auch dazu, sozial immer mehr dazugehören zu wollen und sich so krampfhaft durch den Alltag zu bewegen, dass allein das in Zukunft zu immer mehr Menschen mit steifem Nacken führen kann. Der Druck, von Menschen gemocht und sozial akzeptiert zu werden zieht immer weitere Kreise und das Mobiltelefon ist eins der entscheidenden Instrumente in diesem Prozess. Nicht das einzige, aber es ist schon zum Alltagsbild geworden, dass Menschen sich nur noch wertig fühlen, wenn sie ständig und pausenlos durch SMS-Nachrichten und Anrufen "belästigt" werden. Eine Belästigung ist es nicht im eigentlichen Sinne, die Menschen freuen sich doch viel zu sehr, dass sie sozial und gesellschaftlich allein durch die ständige Kontaktaufnahme durch andere "angesehen" sind. Egal, ob sie die Menschen leiden können oder nicht, der entscheidende Punkt ist, dass man "in Kontakt" bleibt. 

Das Telefon ist allerdings längst nicht mehr das einzige Instrument, dass zum Alltagsprodukt geworden ist im Dickicht der sozialen Kompetenzen. Seit es soziale Netzwerke gibt, ist es nur noch entscheidend, wieviele Menschen man kennt, wie gut man sie kennt, wie man sie kennt, warum man sie kennt, wie lange man sie kennt und warum zum Teufel man nicht eigentlich noch viel mehr Menschen kennt. "Ich kenne dich", "Du kennst ihn", "sie kennt uns".... es gibt nichts mehr anderes, wenn man sich umguckt. Dabei kennt man dann nicht mehr nur Bekannte, Freunde und Verwandte - man kennt Marken, Prominente, Butterbrotstullen und besonders schön gewachsene Grashalme auf besonders fruchtbaren Wiesen. Gut, das Letzte war wohl jetzt noch im Bereich "verrückt", aber glaubt mir, bis in spätestens zwei Jahren wird auch das "normal" sein. 

Was ist nun verrückt und was normal? Die Menschen sind sich wohl weitestgehend einig (solange sie nicht selbst vom Virus Größenwahn befallen sind), dass Anders Behring Breivik nicht mehr alle Tassen in seinem Schrank hat. Das Problem ist: er ist nicht mehr der Einzige, der Außergewöhnliche, der über solche Taten nicht nur nachdenkt, sondern sie auch in die Tat. Er ist nicht der Einzige, der das Potenzial hat und in diesen Dimensionen denkt. Inzwischen gibt es so viel Gewaltpotenzial, so viele Gedanken zu Zerstörung, Mord, Terror und dem Willen, grenzenloses Leid über den Nächsten zu bringen, dass einem zum Fürchten sein kann. Wahrscheinlich ist genau das die "Faszination" oder zumindest das Interesse, mit dem die Menschen speziell im Ausland dem Prozess in Oslo begegnen. Die Menschen haben tief in ihrem Inneren Angst, dass dieses Gewaltpotenzial irgendwann einmal "normal" werden könnte. Auf dem besten Weg dahin sind wir ja bereits. 

Den Begriff "Terror" gab es vor 15 Jahren nicht. Das heißt nicht, dass es das Wort "Terror" nicht gab, aber der Begriff war im täglichen Sprachgebrauch einfach nicht vorhanden. Der 11. September 2001 hat das alles geändert, auch wenn es bereits vorher schon einige verheerende Anschläge gab, bei denen viele Menschen gestorben sind. Die Dimensionen veränderten sich nur durch die Anschläge auf das WTC in New York City. Immer mehr Terroranschläge machten Terrorakte zu einer Art skurriler Normalität, die immer mehr mit Schulterzucken honoriert wird, sobald man im Fernsehen darüber eine Nachricht hört. Dies galt zwar nicht für die Anschläge in Oslo und auf Utoya, jedoch immer mehr für Anschläge in Krisengebieten wie Afghanistan oder Pakistan. Je mehr Anschläge geschehen, desto "normaler" wird solch eine Entwicklung für den Außenstehenden. Nur für die Betroffenen, die bei solch einem Anschlag schwer verletzt oder getötet werden und die Angehörigen der Betroffenen ist jeder einzelne Terrorakt entscheidend und ein wahrhaft einschneidendes Erlebnis. Für diese Menschen gibt es keine "Normalität" im Terror. Die "Normalität" ist in diesem Fall nur die Perversität der Medien, die solche Akte immer öfter als Randnotiz abzeichnen als reiner Lückenfüller, damit die Nachrichten auch die gewünschte Länge erreichen. 

Vielleicht sehe ich das Ganze zu negativ, trotzdem finde ich es traurig, wie emotionslos viele auf den Schrecken in dieser Welt reagieren. Wahrscheinlich können wir nicht anders, sonst wären wir nicht mehr normal. Es würde uns schlichtweg in den Wahnsinn treiben, wenn wir versuchten, jedes Leid mitzufühlen, das einem anderen Menschen passiert. Der umgekehrte Weg ist da wohl der sicherste für die eigene geistige Gesundheit. 

Das Leben muss weitergehen, die Frage ist allerdings, wo wir in 20 Jahren stehen. Was wird in 20 Jahren als "normal" gelten, was heute noch als absolut verrückt gilt? Krieg? Der ist schon normal, zumindest als Aufhänger in Zeitungen und Fernsehnachrichten. Technische Exklusivitäten? Mit bestimmter Sicherheit, die Frage stellt sich dort allerdings auch wieder einmal, ob man das Ganze wirklich braucht oder ob es im Ende nur hilft, immer unfähiger zu werden, sich selbstständig durch das Leben zu schlagen. Was nämlich keiner so richtig zu begreifen scheint: die Technik macht die Menschen dümmer und fauler in gleichem Maße. Es interessiert die Menschen plötzlich nicht mehr, wieviel sie sich merken können oder was sie wirklich wissen - man kann schließlich alles googlen. Telefonnummern und Geburtstage muss man sich dank "Telefonbuch im Mobiltelefon" oder "Kalender" eh nicht mehr merken. Nutzen wir die Zeit einfach für wichtigere Dinge. Doch was ist wichtig? 

Sind schlussendlich die normalen Dinge die wirklich wichtigen? Oder das Verrückte? Vielleicht muss erst differenziert werden, was "normal" ist, weil es überlebensnotwendig ist oder was auch als "normal" bezeichnet wird, sich allerdings nur deswegen so bezeichnen darf, weil es so durchschnittlich und alltäglich ist, dass es kein Erstaunen mehr auslöst. Wahrscheinlich sind die Dinge der ersten Kategorie die wirklich wichtigen. Alles, was wir für die eigene Existenz brauchen, um zu überleben, sind die Dinge, die wir erhalten müssen. Der Rest ist zwar alltäglich und manchen kommt es vor, als könnte sie ohne nicht leben. Fakt ist jedoch, alles ist austauschbar. Jeder beliebte Schauspieler von heute wird durch fünf andere in ein paar Jahren ersetzt, jede hypermoderne Technik wird durch mindestens 20 neue Marken in einigen Monaten abgelöst.

Es kann sein, dass wir uns alle der Realität stellen müssen, dass wir Stück für Stück verrückter werden. Gelangweilt und überfüttert von allen Möglichkeiten, die uns die globalisierte Welt bietet, entwickeln wir Tendenzen, die Extreme immer weiter auszureißen. Ich glaube nicht, dass das dazu führen wird, dass wir alle in Zukunft Amok laufen. Zu diesem Thema gehört wohl auch eine gehörige Portion Wahnsinn und Realitätsverlust, gepaart mit abgrundtief bösen Charaktereigenschaften, von denen man sich aussuchen kann, ob sie nun angeboren oder erlernt sind. Doch wir werden in Zukunft immer weniger überrascht werden von den Extremen, die das Leben hervorbringt. Bei all den Individuen und allen Ideen, die dadurch entstehen, ist es nicht mehr verwunderlich, was alles geschieht, welche Wege jeder einzelne geht. Damit wird es auch immer schwerer, uns zu unterhalten, uns zu überraschen, zu schockieren - aber auch zu begeistern. 

Abwarten und Tee trinken heißt da wohl wieder einmal die Devise. Denn weder im Kaffeesatz noch in der Kristallkugel können wir heute erkennen, was morgen "normal" sein wird. Eins steht nur fest: irgendwann ist alles vorbei, auch die verrücktesten Dinge. Das gilt sowohl für den Prozess in Oslo, als auch für die "Heilig Rock"-Wallfahrt - und für den kleinen Alltagswahnsinn sowieso. 

In diesem Sinne allen Lesern dieses Blogs ein schönes Restwochenende und eine gute nächste Woche. Bis zum nächsten Eintrag am nächsten Samstag. 

LG Gene :-)


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